6.03.2015

Gastbeitrag

Der Russe als solcher
und die NATO als solche

Martin Buchholz, Kabarettist
Was kümmert die US-Regierung eigentlich die Ukraine? Warum hat sie allein fünf Milliarden Dollar in die Maidan-Bewegung und in den Umsturz in Kiew investiert, wie die "Fuck-EU"-Vize-Außenministerin Victoria Nuland stolz vor Exil-Ukrainern in New York verkündet hat? Und was kümmerte die Amerikaner damals eigentlich das Kosovo, wo sie die dortigen Separatisten ebenfalls mit Milliarden-Dollar-Spenden alimentierten? Umfragen zufolge wissen 80 Prozent der US-Bürger noch nicht einmal, daß die Ukraine nicht in Asien liegt. Vom Kosovo ganz zu schweigen. Warum also die latente und zur Not auch potente amerikanische Kriegsbereitschaft in Regionen, von deren Existenz die meisten Amerikaner nicht die leiseste Ahnung haben?

Die Antwort geben Analysten amerikanischer Think-Tanks in aller Offenheit. Diese Offenheit kann man allerdings nicht "entwaffnend" nennen, weil rechte Think Tanks in den USA stets "bewaffnend" denken. They think in tanks, also schwer gepanzert.

Nun waren Panzer eine ganz kurze Zeit in Europa ganz kurz aus der Mode – nämlich nach der 89er "Zeitenwende". Da nach dem halbwegs friedlichen Zusammenbruch des Ostblocks plötzlich das Denken in alten Blöcken abgeblockt war, breitete sich auf einmal in Europa eine gefährliche Seuche aus, eine epidemisch auftretende Sehnsucht nach einer friedlichen Zukunft des Kontinents. Solche fiebrigen Friedensträumereien mußten natürlich gestoppt werden bevor sie noch mehr Landstriche kontaminierten. Noch im Dezember 1989, kurz nach dem Mauerfall, veranstaltete die SPD zum Beispiel einen "Friedenskongreß" und verabschiedete eine "Berliner Erklärung", die auf dem Papier noch heute gilt (nun ja, die SPD-Führung hat sich wie gesagt gleich am Anfang davon verabschiedet). Da stand (und steht immer noch) zu lesen: "Von deutschem Boden darf nur noch Frieden ausgehen." Das war vielleicht etwas ungeschickt formuliert, dem Frieden eine dauernde Ausgeh-Erlaubnis zu erteilen, denn irgendwann – im Jahre 1999 – war der Frieden uns dann mal wieder ausgegangen. Weder der SPD-Kanzler noch der Grünen-Außenminister wollten ihn wiederhaben. (Die Namen sind der Redaktion bekannt.)

Was die neoliberalen Think Tanks nach dem Mauerfall gedankenschwer beunruhigte war die Tatsache, daß mit der hoffnungsfroh ausgebrochenen Friedens-Euphorie auch der Feind im Osten abhanden gekommen war. Und damit lungerte auch die NATO auf einmal arbeitslos in der veränderten politischen Landschaft herum. Damit waren viele NATO-verbundene Arbeitsplätze in Gefahr. Und das konnte man schon aus rein sozialen Gründen nicht dulden. Also mußte dringend ein neues Feindbild geschaffen werden als Arbeitsbeschaffungs-Maßnahme für die NATO. Genau genommen mußte das Feindbild gar nicht so neu sein – es reichte schon, das alte neu aufzupolieren. Also: "Der Russe" mußte wieder zu alten Un-Ehren kommen, um der NATO sinnstiftend zu einer weiteren Daseinsberechtigung zu verhelfen.

Dieser neue Propaganda-Feldzug begann Mitte der neunziger Jahre und führte zum Krieg gegen Serbien, den traditionellen Verbündeten Rußlands. "Wir mußten den Russen in ihre immer enger werdenden Grenzen weisen und ihnen zeigen, daß wir auch auf dem Balkan das Kommando übernehmen", so gab es ein amerikanischer Tank-Thinker später als Kriegsgrund zu Protokoll.

Nun könnte man noch immer naiv fragen: Aber warum mußte denn die NATO neu hochgepäppelt werden? The answer is as clear as dumpling-broth, also klar wie Kloßbrühe: Denn dieser dringend benötigte Serbien-Krieg hatte die erwünschte Folge, daß die Rüstungsausgaben in den USA wieder sprunghaft anstiegen. In den Jahren zuvor, nach dem November 1989, hatte Präsident Clinton den Verteidigungshaushalt ziemlich drastisch gekürzt. Zehn Jahre später war der "militärisch-industrielle Komplex" (so getauft von Eisenhower) in den USA endlich wieder komplett politik-stimmend. (Zur aktuellen Geschichte der Allmacht der US-Rüstungskonzerne in Verbindung mit dem Militär finden Sie am Schluß dieser Kolumne den Hinweis auf einen Artikel der Bundeszentrale für politische Bildungsarbeit, einer gewiß nicht links-verdächtigen Einrichtung.)

Nur zur Erinnerung: Diese rasante Wiederaufrüstung in den USA geschah im Jahr 1999 – und somit zwei Jahre vor dem September 2001, als mit dem "Ground-Zero"-Schock der "Krieg gegen den Terror" in Afghanistan und im Irak ganz neue Aufrüstungs-Dimensionen mit sich brachte.

Mir kam das alles erst gestern wieder in den Sinn, als ich in meinen uralten Kolumnen herumstöberte. In einem meiner "Wochenschauer" aus dem Dezember 2000 fand ich eine bemerkenswerte Analyse zur amerikanischen Sicherheitspolitik – nein, nicht von mir verfaßt, sondern von George Doubleyou Bush. Der war damals als Präsident zwar schon irgendwie gewählt, aber noch nicht im Amt. In einem Fernseh-Interview stammelte er sich wacker durch Vergangenheit und Gegenwart. Dabei lieferte er folgende US-Sicherheits-Expertise ab, hier wortgetreu übersetzt. Er konstatierte zunächst seufzend: "Diese Welt ist heute viel unsicherer als die Vergangenheit." Was zumindest stilsicher formuliert war. Und er fuhr fort: "In der Vergangenheit waren wir sicher. Wir waren sicher, daß es hieß: 'Wir gegen die Russen!', in der Vergangenheit."

Das war das Gute an den Russen in der Vergangenheit – erstens, daß es sie gab und zweitens, daß sie den Amerikanern etwas gaben, nämlich die Sicherheit, daß man zwecks Friedenssicherung gegen die Russen sein mußte. Denn: "Wir waren sicher, deshalb hatten wir riesige Nukleararsenale aufeinander gerichtet, um den Frieden zu erhalten." Nach dieser atomaren Vergangenheitsbewältigung wandte Bush den analytischen Blick wieder in die eigene Zukunft als künftiger Präsident, und so fügte er hinzu: "Aber es gibt auf dieser Welt auch Verrückte, und dessen bin ich mir auch ganz sicher."

Tscha, ein Blick in den Spiegel kann zuweilen recht überzeugend sein.

In einem jedenfalls hat Bush Weitblick bewiesen. Daß es die Russen gab, war schon in der Vergangenheit aus militärischer Sicht wahrlich nicht schlecht. Daß es die Russen immer noch gibt, ist in der Gegenwart noch sehr viel besser. Denn deren Existenz gibt der NATO ein gutes Gefühl der existentiellen Sicherheit, was das eigene Fortbestehen angeht.

Und daß es auf dieser Welt – wie Bush klarsichtig erkannte – auch reichlich Verrückte gibt, daran hat sich ebenfalls bis heute nichts geändert. Klingt doch irgendwie tröstlich. Oder?

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Hier meine fortbildende Lektüre-Empfehlung zum Thema: Neuer militärisch-industrieller Komplex in den USA. Da sind meine Steuergelder mal sinnvoll verwendet worden bei der Bundeszentrale für politische Bildung:
www.bpb.de/apuz/27289/der-neue-militaerisch-industrielle-komplex-in-den-usa?p=all

 

Gastbeitrag von

Martin Buchholz

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