21.08.2013

Der Prager Frühling

und dessen Niederschlagung am 21. August 1968

Niederschlagung des Prager Frühlings
Der "Prager Frühling" in der Tschechoslowakei (CSSR) war ebenso wie der Versuch, Anfang der 1970er-Jahre in Chile einen demokratischen Sozialismus zu realisieren, zum Scheitern verurteilt. Nicht allein, daß weder die kapitalistische Führungsmacht USA noch die UdSSR, die den staatskommunistisch organi­sierten Ostblock beherrschte, solche menschenfreundlichen Experimente in ihrem Machtbereich dulden konnten - auch die Vorstellung dessen, wie ein soziales und demokratisches Gemeinwesen organisiert sein müßte, war sowohl in der CSSR als auch in Chile zu wenig entwickelt. Hinzu kommt außerdem, daß die Protagonisten in beiden Ländern gravierende Fehler begingen und es ihren Feinden dadurch erleichterten, sie zu beseitigen.

Bis 1968 war der Stalinist Antonin Novotný als Erster Sekretär der "kommunistischen Partei der CSSR", KPC, in der Tschechoslowakei der starke Mann von Moskaus Gnaden. Selbst der damalige "leitende Angestellte" der DDR, Walter Ulbricht, ebenfalls Stalinist reinsten Wassers, soll Novotný als dogmatisch bezeichnet haben. Nikita Chruschtschow hatte zwar in der UdSSR nach Stalins Tod 1953 die Macht übernommen, 1956 die "Entstalinisierung" begonnen und den rigiden Druck der Stalinschen Diktatur ein wenig gelockert, doch in den Satelliten-Staaten wie der DDR oder der CSSR kam dies - wenn überhaupt - erst mit einiger Zeitverzögerung an. So mußte sich Novotný in der CSSR nicht nur die Kritik von Intellektuellen, sondern zunehmend auch aus dem eigenen "kommunistischen" Apparat gefallen lassen.

Eine Aufarbeitung der Terrorprozesse wurde gefordert, die während der Stalin-Ära auch in der CSSR stattgefunden hatten und denen nicht selten selbst "unschuldige" StalinistInnenen zum Opfer gefallen waren. Novotný wurde nicht nur wegen der verschleppten "Entstalinisierung" kritisiert, sondern zudem wegen seines an Stalin geschulten Führungsstils und der wirtschaftlichen Probleme, die in der CSSR im Laufe der 1960er-Jahre zunahmen. Darüber hinaus forderten die SlowakInnen entsprechend den formal föderalen staatlichen Vorgaben ein wenig mehr Mitspracherechte.

Als Kompromiß-Kandidat zwischen den sich gegenseitig blockierenden Flügeln in der KPC, Reformern und Alt-Stalinisten, gelangte Alexander Dubcek am 5. Januar 1968 als Nachfolger Novotnýs ins Amt des Ersten Sekretär des Zentralkomitees - beide Seiten hofften, ihn in ihrem Sinne lenken zu können. Das Amt des Staatspräsidenten mußte Novotný am 27. März 1968 an Ludvík Svoboda abgeben.

Dubcek nutzte die Chance, um die aus dem Westen herüber­schwappende Aufbruchstimmung von 1967 und 1968 und die Hoffnungen der TschechInnen und SlowakInnen auf mehr Freiheit, um einige Demokratisierungs- und Liberalisierungsprogramme zu starten. Bereits im Februar 1968 hob er die Pressezensur in der CSSR auf. Obwohl Viele Dubcek zunächst als Vertreter des "Staats­kommunismus" mißtrauten, stießen diese Programme in der Bevölkerung auf starke positive Resonanz.

Der überwiegende Teil der von der Aufbruchstimmung erfaßten Jugend wollte keineswegs die Errichtung eines kapitalistischen Systems - die Situation war vergleichbar mit der Zeit kurz vor dem Zusammenbruch der DDR. Allerdings hatten sich nur Wenige ansatzweise Gedanken gemacht, wie eine Alternative zur staatlich und zentral gelenkten Wirtschaftspolitik des Ostblocks und der kapitalistischen mit ihrem "freien Markt" aussehen könnte. So fehlte gerade Dubcek und den ihn im Apparat unterstützenden reformwilligen KommunistInnen jeglicher Plan, eine neue wirtschaftliche Grundlage des Gemeinwesens zu realisieren. Erschwert wurde dies durch die dubiose Rolle, die Ota Šik, ZK-Mitglied und Leiters des Wirtschaftsinstituts an der Prager Akademie der Wissenschaften spielte. Nach außen hin trat er als Reformer auf und sprach sich für eine "sozialistische Marktwirtschaft" aus. Insgeheim aber beabsichtigte er - wie er später selbst bestätigte - niemals tatsächlich eine Reform des Sozialismus sondern vielmehr dessen "Abschaffung". Die von Šik angestrebte Position als Leiter des Wirtschaftsausschusses wurde ihm innerhalb der KPC verwehrt. Dubcek versuchte eine Gradwanderung auf des Messers Schneide, indem er den Führungsanspruch der KPC und den des "großen Bruders" in Moskau nicht in Frage stellte. Hätte er einen anderen Kurs gewagt, wäre er sofort gescheitert.

Gerade auch in Westdeutschland weckte das politische Experiment in der CSSR große Hoffnungen. Ein großer Teil der fälschlich als "Studentenbewegung" bezeichneten, 1967 zu politischem Engagement erwachten Menschen in Deutschland hatte ein - trotz Stalin - recht positives Bild vom "Sozialismus", den die Diktaturen des Ostblocks für sich reklamierten. Es war zwar mit mehr oder weniger Skepsis durchmischt, aber durch die kaum verhüllte Präsenz der Schrecken des Vietnam-Kriegs hatte der Kapitalismus allzu deutlich sein wahres Gesicht erkennen lassen. Auch für viele Intellektuelle in Deutschland gab es keine Alternative zu einer Entscheidung zwischen USA und UdSSR.

Alexander Dubcek - Time Magazine, 5. April 1968
Die westliche Presse spielte ein perfides Spiel mit Dubcek und präsentierte ihn "wohlwollend" als Hoffnungsträger - was ihn in Moskau nur um so verdächtiger machte. So wurde er beispielsweise von der US-amerikanischen Zeitschrift 'Time' als "Mann des Jahres" auf der Titelseite präsentiert. Provokativ war auch das Schlagwort vom "Sozialismus mit menschlichen Antlitz", das Dubcek in den Mund gelegt wurde. Dies unterstellte dem sowjetischen Gesellschaftsmodell indirekt, unmenschlich zu sein. Auch wenn es objektiv zugetroffen hat - die Machthaber der USA hätten sich beim entsprechenden Verdikt ebenso provoziert gefühlt.

Zunächst zeigte sich auch die Sowjet-Führung um Leonid Breschnew, der 1964 seinen Vorgänger Chruschtschow gestürzt hatte, wohlwollend. Gerade aber die Popularität Dubceks auch über die CSSR hinaus ließ in Moskau die Angst aufkommen, die - als vorübergehend eingeschätzte - Stimmung in der CSSR könne das gesamte Sowjetreich erfassen. Eine große Sorge bestand zudem darin, die CSSR könne an den "Westen" fallen und der von jeder Großmacht gefürchtete Erosionsprozeß auf diese Weise in Gang kommen. So wurde Dubcek zur Rücknahme der gerade erst begonnenen Reformen aufgefordert. Dubcek jedoch blieb standhaft.

Am 21. August 1968 marschierten Truppen des Warschauer Paktes mit Panzern und rund 500.000 Soldaten aus der Sowjetunion, Polen, Ungarn und Bulgarien gestützt auf die "Breschnew-Doktrin" in die Tschechoslowakei ein. Die tschechoslowakische Bevölkerung ging massenhaft auf die Straßen und stellte sich den Panzern unbewaffnet entgegen. Dann wurden auch Molotow-Cocktails geworfen und ein sowjetischer Panzer geriet in Flammen. Bereits am ersten Tag des Einmarschs kamen 23 Menschen ums Leben. Bis zum 1. September wurden 71 Tote gezählt. Die tschechoslowakische Führung wurde nach Moskau gebracht und in der "Moskauer Übereinkunft" zu einer Erklärung über die weitgehende Revision ihrer Reformen gezwungen.

Allerdings funktionierte der Plan des UdSSR-Regimes, in der CSSR eine neue Regierung zu präsentieren, aufgrund des geschlossenen und weitgehend gewaltfreien Widerstands der Bevölkerung des besetzten Landes nicht. Auch die Behauptung, die KPC habe um den Einmarsch ersucht, wurde von tschechoslowakischer Seite geschlossen dementiert. In den Wirren der ersten Tage der Besatzung gelang es der KPC sogar, einen außerordentlichen Kongress der Nationalversammlung einzuberufen, auf welcher der Einmarsch ausdrücklich verurteilt und die Regierung Dubcek im Amt bestätigt wurde.

1969 wurde Dubcek aller Ämter enthoben, 1970 aus der Partei ausgeschlossen und in die Forstverwaltung abgeschoben. Wenige Jahre später, 1973, kam der chilenische Präsident Salvador Allende bei dem Versuch, unter umgekehrten Vorzeichen auf demokratischem Weg einen echten und nicht nur vorgetäuschten Sozialismus zu realisieren, bei einem CIA-gesteuerten Militärputsch ums Leben. Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger hatte ganz offen geäußert: "Ich kann nicht einsehen, weshalb wir einfach daneben stehen sollten, wenn ein Land wegen der Verantwortungslosigkeit seines eigenen Volkes kommunistisch wird."

Nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings verließen zehntausende Menschen das Land. Allein nach Österreich flüchteten rund 96.000 Menschen, weitere 66.000 Urlauber kehrten nicht aus Österreich in die Tschechoslowakei zurück.

Dubceks Nachfolger Husak versuchte, den Einmarsch der Sowjets in die CSSR mit der Behauptung zu rechtfertigen, Dubcek habe das Land dem Kapitalismus ausliefern wollen. Der chilenische Putschisten-General und langjährige Diktator Augusto Pinochet malte das Schreckbild des Kommunismus mit Enteignung, Hunger und Terror an die Wand. Ob nun mit dem Schreckbild des Kommunismus oder dem des Kapitalismus Angst gemacht wurde: Ziel war es immer, das Volk in die Arme der Mächtigen zu treiben.

Das Ende des "Prager Frühlings" unter den Stiefeln der Roten Armee hatte gravierende Auswirkungen auf die Haltung der Menschen in der Protestbewegung der "Achtundsechziger" insbesondere in Deutschland und Frankreich. Bei Vielen wuchs die Distanz zur Sowjetunion. Es war der Beginn der Fraktionierung der westeuropäischen Linken in kleinste Splittergruppen. Manche fanden in ihrer unvermindert autoritären Orientierung auf der Suche nach einem Halt den Maoismus als "neues" alt-stalinistisches Idealbild eines "realexistierenden Sozialismus". Und viele gerieten mangels Orientierung auf dem "Marsch durch die Institutionen" in sozialdemokratisches oder gar rechtes Fahrwassser.

Auch heute noch ist das Interesse an Entwürfen für die freie und demokratische Organisation einer Ökonomie jenseits von Kapitalismus und Staatskommunismus recht schwach entwickelt. Dies könnte sich rächen, wenn die Geschichte erneut die Chance einer grundlegenden gesellschaftlichen Umgestaltung bietet. Denn selbst wenn sich noch einmal eine Mehrheit der Bevölkerung für einen Aufbruch begeistert, ist eine solche Chance schnell vertan. Jede Gesellschaftsordnung basiert auf einer Wirtschaftsstruktur, die diese determiniert. Eine soziale und freie Gesellschaftsordnung kann nur dann dauerhaft realisiert werden, wenn es gelingt, die Wirtschaft radikal zu demokratisieren.

 

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Anmerkungen

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