5.04.2012

Festung Europa
Die NATO und der Tod von 63 Bootsflüchtlingen

Boots-Flüchtlinge Rom (LiZ). Ein Bericht des Europarats enthüllt, daß die Kriegsflotte der NATO im Frühjahr 2011 ein in Seenot geratenes Schlauchboot mit 72 Flüchtlingen an Bord sichtete und dennoch ignorierte. 62 der Flüchtlinge verdursteten. Das UN-Flüchtlings- hilfswerk UNHCR zählte mehr als 1.500 Flüchtlinge, die im Jahr 2011 im Mittelmeer ertranken oder auf der Passage verdursteten - so viel wie in keinem anderen Jahr zuvor.

Der vorläufige Abschlußbericht des Europarats kommt zum Ergebnis, daß die NATO eine hohe Mitschuld an dem Tod der 63 Flüchtlinge trägt. Das Schlauchboot mit insgesamt 72 Flüchtlingen an Bord wurde auf seiner 15 Tage währenden Irrfahrt zwischen Libyen und der italienischen Insel Lampedusa mehrfach von Kriegsschiffen und Hubschraubern der NATO gesichtet. Die Menschen, darunter 20 Frauen und zwei Babys, hätten ohne weiteres gerettet werden können - so der Bericht des Europarats.

Die 72 Flüchtlinge aus Äthiopien, Eritrea, Ghana, Nigeria und dem Sudan waren am 26. März 2011 von Tripolis aus gestartet. Sie hofften, die Insel Lampedusa in rund achtzehn Stunden zu erreichen. Doch offenbar geriet das Schlauchboot wegen schlechten Wetters und wegen der Unerfahrenheit des Bootsführers in Seenot. Per Satelliten-Telefon nahm dieser bereits am späten Nachmittag des 27. März Kontakt mit einem eritreischen Priester in Rom auf. Dieser alarmierte darauf sofort die italienische Küstenwache. Mit Hilfe des Satelliten-Telefons konnte die exakte Position des Schlauchbootes ermittelt werden. Mehrere Notrufe gelangten über verschiedene Kanäle sowohl an alle Schiffe, die sich in der Nähe befanden als auch an das NATO-Hauptkommando in Neapel. Als das Schlauchboot schließlich am 10. April in Libyen strandete, waren noch zehn Menschen am Leben. Diese wurden inhaftiert und eine Frau starb kurze Zeit darauf wegen fehlender medizinischer Versorgung.

Die neun Überlebenden berichteten übereinstimmend, daß bereits am 27. März ein Militärhubschrauber über dem Boot kreiste und mit Hilfe eines Seils Wasserflaschen und Kekse herabließ. Zehn Tage darauf, als bereits über 30 Flüchtlinge verdurstet waren, trieb das manövrierunfähige Boot auf ein großes Kriegsschiff zu. Die Soldaten an Bord betrachteten die Flüchtlinge durch Ferngläser und machten Fotos. Doch obwohl die Flüchtlinge in ihrer Verzweiflung die toten Babys hochhielten, fuhr das Schiff weiter ohne Hilfe zu leisten.

Ein italienischer Beamter sagte im Frühjahr 2011 im Hinblick auf Bootsflüchtlinge zynisch: "Ich schätze, daß die Überfahrt von Libyen nach Italien einem Slalom zwischen Kriegsschiffen gleichkommen wird." Tatsächlich waren in dieser Zeit wegen des Libyen-Krieges in der schmalen Mittelmeerzone zwischen Italien und Libyen mehr als zwanzig NATO-Kriegsschiffe, darunter Flugzeug- und Hubschrauberträger, im Einsatz. Das Seegebiet galt im März und April 2011 als das am intensivsten überwachte der Welt. Die NATO-Flotte ist mit hochwertigen Radar- und anderen Ortungsgeräten ausgestattet, wurde durch AWACS-Flugzeuge koordiniert und zudem mit Satelliten-Bildern versorgt.

Im Frühjahr 2011 führte die europäische Grenzschutzbehörde Frontex eine Operation "Hermes" durch, mit der Flüchtlingsboote vor den Küsten Italiens und Maltas aufgespürt werden sollten. Außerdem überwachen Polizei-Boote und Flugzeuge der italienischen Grenzschutzpolizei routinemäßig die Region zwischen Lampedusa und der nordafrikanischen Küste.

Weil es auf den ersten Blick paradox erschien, daß 63 Flüchtlinge ums Leben kamen, obwohl sie sich in einer derart gut überwachten Zone befanden, führte der Europarat eine Untersuchung durch. Dieses Gremium ist keine Institution der Europäischen Union. Es hat die Aufgabe, die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention innerhalb der 49 Mitgliedsstaaten zu überwachen. Bei dieser Untersuchung wurden sowohl die überlebenden Flüchtlinge befragt als auch offizielle Vertreter der NATO, der italienischen Seenotrettung und der Europäischen Union. Dabei boten letztere offensichtlich ein erbärmliches Bild: Sie versuchten zu leugnen, abzuwiegeln und auch schlicht die Auskunft zu verweigern.

So konnte bis heute weder die Identität des Hubschraubers noch die des Kriegsschiffes, die von den Flüchtlingen beschriebenen wurden, ermittelt werden. Obwohl es Aufzeichnungen darüber gibt, daß sich die spanische Fregatte Mendez Nunez nur 11 Seemeilen und das italienische Kriegsschiff ITS Borsini nur 37 Seemeilen von dem Flüchtlingsboot entfernt aufhielten, gaben die zuständigen Verteidigungsministerien und Behörden bei den Anfragen des Europarates keine näheren Angaben heraus. Sie verwiesen auf die NATO oder bestritten sogar, daß es einen Seenotruf gegeben habe.

Ein NATO-Vertreter in Brüssel bestätigte gegenüber dem Europarat zwar, daß der Notruf weitergeleitet worden war, verweigerte jedoch eine Auskunft über die Identität des Kriegsschiffes, das dem Flüchtlingsboot am nächsten gekommen war. Die USA und Großbritannien verweigern bis heute jede Angabe darüber, ob sich ihre Kriegsschiffe in der Nähe befanden. Die sogenannte EU-Außenministerin, Catherine Ashton, bewies ihre Mißachtung der Untersuchung, indem sie fünf Monate verstreichen ließ, bevor sie antwortete, daß die EU keine Satelliten-Bilder von der Mittelmeerregion aus jener Zeit zur Verfügung stellen könne. Sie verwies wiederum auf die Zuständigkeit der NATO.

Dieses Verhalten nährt den begründeten Verdacht, daß hier bewußt ein Verbrechen gedeckt wird: Sowohl NATO als auch Frontex hatten offenbar weggeschaut und den Tod der Flüchtlinge billigend in Kauf genommen. Der vorläufige Abschlußbericht des Europarats enthält neben den Fakten lediglich vorsichtige diplomatische Formulierungen: Versäumnissen, Unzulänglichkeiten, Nachlässigkeiten. Als Fazit ist darin darin allerdings zu lesen, daß "die Bootsinsassen hätten gerettet werden können, wenn die involvierten Akteure ihre Verpflichtungen eingehalten hätten."

Diese Leidensgeschichte steht exemplarisch für die in Europa in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen inhumanen Folgen der militärischen und polizeilichen Abschottung der Festung Europa. Die Aufgabe von Frontex besteht ausschließlich in der Abwehr von Flüchtlingen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zählte mehr als 1.500 Flüchtlinge, die im Jahr 2011 im Mittelmeer ertranken oder auf der Passage verdursteten - so viel wie in keinem anderen Jahr zuvor. Die Dunkelziffer beträgt vermutlich ein Vielfaches. In den vergangenen 25 Jahren kamen infolge der inhumanen EU-Politik nahezu 15.000 Flüchtlinge ums Leben.

 

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Anmerkungen

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