20.08.2010

Bundessozialgericht:
Arme Kinder sollen dumm bleiben

blinde Justizia Kassel (LiZ). Sozialstaat und Menschenwürde werden in der Verfassung garantiert. Offenbar heißt dies aber nicht, daß sie auch in der Realität garantiert werden. Ein rheinland-pfälzischer Schüler, der von Hatz IV abhängig war, hatte auf volle Übernahme der Kosten für Schulbücher geklagt. Das Bundessozialgericht wies gestern die Klage ab.

Der Fall des rheinland-pfälzischen Schülers geht bereits seit etlichen Jahren durch verschiedene Rechtsinstanzen. Im Schuljahr 2005/2006 hatte er die neunte Klasse eines Gymnasiums besucht. Seine alleinstehende Mutter studierte damals. Für ihr Kind bezog sie Sozialleistungen nach Hartz IV. Er benötigte in diesem Schuljahr Schulbücher für insgesamt 198,20 Euro. Gerade einmal 59 Euro konnten durch einen "Lernmittelgutschein für einkommensschwache Eltern" abgedeckt werden. Die Differenz von 139,20 Euro beantragte die Familie bei der "Arbeitsagentur".

Die Behörde lehnte ab. Die erste Klage hiergegen wurde abgewiesen. In zweiter Instanz jedoch verurteilte das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz den Landkreis als Sozialhilfeträger, die Kosten der Schulbücher zu tragen. Dieser ging in Revision.

Das Landessozialgericht hatte festgestellt, daß das sogenannte Existenzminimum lediglich prozentual vom Arbeitslosengeld-II-Regelsatz für Erwachsene abgeleitet war. Dies befand das Bundesverfassungsgericht im Februar dieses Jahres als verfassungswidrig. Ob dies jedoch eine Verbesserung der Lage der von Hartz IV Betroffenen zur Folge haben wird, steht dahin. Eine Folge dieses Urteils ist jedoch fatal. Die BundesverfassungsrichterInnen befanden, daß der seit Januar 2005 währende Verfassungsbruch nicht zu Nachzahlungen führen dürfe. Möglicherweise ahnten sie, daß ansonsten die milliardenschwere Rettung deutscher Banken gefährdet werden könnte.

Immerhin bemerkten die BundesverfassungsrichterInnen, daß Aufwendungen für den Bereich "Bildungswesen" überhaupt nicht im sogenannten Existenzminimum armer Kinder eingerechnet waren. Und: Dieser Verfassungsverstoß sei auch durch einen von der Bundesregierung nachträglich beschlossenen Zuschuß von 100 Euro pro Schuljahr nicht beseitigt worden. Bei vielen Kindern aus von Hartz IV betroffenen Familien scheitert der Besuch eines Gymnasiums jedoch allein schon daran, daß die Eltern nicht in der Lage sind, das Geld für Fahrkarten zur Schule aufzubringen.

Nun berief sich das Bundessozialgericht aufs Bundesverfassungsgericht und erklärte in seinem Urteil, daß das Geld für Schulbücher "im Nachhinein" nicht erstattet werden könne. Der Schüler habe "unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt" einen entsprechenden Anspruch gehabt, teilten das Gericht mit. Der Sozialträger, also der Landkreis, sei nicht zuständig, weil der Schüler keinen "atypischen Bedarf von Kindern" geltend gemacht habe. Der Kauf von Schulbüchern sei nun mal "typisch". Auch die "Arbeitsagentur" muß aus Sicht der obersten BundessozialrichterInnen nicht zahlen, weil seit dem 9. Februar die Hartz-IV- Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts gilt. Dieses hatte damals aber entschieden, daß der Staat Leistungen nicht rückwirkend erstatten muß. Deshalb habe der Schüler auch keinen Anspruch darauf.

Die Öffentlichkeit ist aufgerufen, mit den BundessozialrichterInnen Mitleid zu haben. Denn Richter Wolfgang Spellbrink erklärte bei der Urteilsverkündung: "Es ist ein unbefriedigendes Urteil, was uns nicht glücklich macht."

Der Verfassungsbruch ist insbesondere für Kurt Beck blamabel. Der kurzzeitige "rote" Bundesvorsitzende und langjährige rheinland-pfälzische Ministerpräsident hat nun nach langem Zögern eine Behelfslösung auf den Weg gebracht: In Rheinland-Pfalz wird nun ein Schulbuch-Ausleihsystem für Kinder einkommensschwacher Eltern aufgebaut.

 

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Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

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