25.04.2012

Berliner Sozialgericht
Hartz IV ist nicht menschenwürdig

Menschenunwürdig Berlin (LiZ). Der Hartz-IV-Regelsatz ist nach Ansicht von RichterInnen des Berliner Sozialgerichts zu gering und daher verfassungswidrig. Alleinstehende müßten 410 Euro im Monat statt den derzeit 374 Euro bekommen, Familien rund 100 Euro mehr als zur Zeit. Nur so sei ein menschenwürdiges Leben möglich.

Tatsächlich wurde der Hartz-IV-Regelsatz seit der Einführung am 1. Januar 2005 Jahr für Jahr real gekürzt. Denn die nominalen Erhöhungen lagen jedes Mal unter der Inflationsrate. Wäre in den vergangenen sieben Jahren wenigstens der Kaufkraftverlust ausgeglichen worden - sogenannte Nullrunden - hätte sich der Hartz-IV-Regelsatz entsprechend der in schwarzen Zahlen (gerundet) dargestellten Spalte der folgenden Tabelle entwickeln müssen. Die Realität jedoch wird durch die mit roten Zahlen dargestellte Spalte wiedergegeben - es wurde also real gekürzt:

Die Entwicklung von Hartz IV

Dabei war bereits im Jahr 2004 klar, daß der für die Einführung zum Januar 2005 geplante Regelsatz von 345 Euro kein menschenwürdiges Leben gewährleisten kann. Wäre wenigsten das ausgeglichen worden, was durch die Inflation an Kaufkraft verloren ging, müßte der Regelsatz heute rund 388 Euro betragen - stattdessen beläuft er sich auf 374 Euro.

Gegen diesen menschenunwürdigen und anti-sozialen Regelsatz hatte eine dreiköpfige Familie aus dem Berliner Stadtteil Neukölln geklagt, die nun vom Berliner Sozialgericht recht bekam. Sie hatte mit Unterstützung einer Gewerkschaft Klage eingereicht und erklärt, sie komme mit der auf dem Regelsatz basierenden monatlichen Zahlung von 998 Euro - 374 plus 337 für die beiden Eltern plus 287 für den 16-jährigen Sohn - nicht aus. Die Berechnungen der Ämter sind äußerst unübersichtlich, da auf der einen Seite zwar über die berechneten 998 Euro hinaus die Kosten für Unterkunft und Heizung erstattet, aus der anderen Seite jedoch Kindergeld und weitere Einkünfte angerechnet werden, so daß der Familie tatsächlich im Monat nur 439,10 Euro für den täglichen Bedarf zur Verfügung stehen.

Das Berliner Sozialgericht mußte nach gründlicher Berechnung erkennen, daß der Familie nach den von "Rot-Grün" eingeführten Hartz-Gesetzen und etlichen "Nachbesserungen" von "Schwarz-Rot" und "Schwarz-Gelb" nicht mehr zusteht als diese 439,10 Euro monatlich. Zugleich jedoch befand das Gericht, daß diese Vorschriften verfassungswidrig sind.

Begründet wird der Hartz-IV-Regelsatz durch Berechnungen auf der Grundlage einer bereits im Jahr 2004 veralteten Statistik über die Ausgaben der untersten 15 Prozent unter den deutschen Alleinstehenden. Doch bereits die Wahl dieser "Referenzgruppe" ist nach Auffassung des Berliner Sozialgerichts nicht statthaft. Diese Gruppe umfasse Personen, deren Existenzminimum nicht gedeckt sei. Doch sogar diese statistisch erfaßten Ausgaben seien für die Aufstellung des Hartz-IV-Regelsatzes nochmals "nicht nachvollziehbar" - so die RichterInnen - um verschiedene Posten gekürzt worden.

Das Berliner Sozialgericht stellte zudem fest, daß nicht statistisch belegt ist, wie viel etwa eine von Hartz IV betroffene Familie an Geld zurücklegen müßte, um für den Kauf langlebiger Gebrauchsgüter wie etwa einer Waschmaschine gewappnet zu sein. Nach ihrer Einschätzung fehlt der klagenden Familie rund hundert Euro im Monat. Der Regelsatz sei um rund 36 Euro zu gering.

Doch dies sehen nicht alle Berliner RichterInnen so. Eine andere Kammer des Berliner Sozialgerichts befand Ende März in einem anderen Fall, die derzeitigen Hartz-IV-Zahlungen seien ausreichend. Nun muß sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Fall beschäftigen. Die RichterInnen in Karlsruhe hatten bereits im Februar 2010 die damaligen Hartz-IV-Regelsätze als verfassungswidrig verworfen und eine transparente Berechnung verlangt (siehe unseren Artikel vom 9.02.10). Der Regelsatz war daraufhin zum Januar 2011 um fünf und zum Januar 2012 um weitere zehn Euro erhöht worden. Zudem können Kinder nun ergänzend sogenannte Teilhabe-Leistungen beanspruchen, etwa für ihren Mitgliedsbeitrag im Sportverein.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) begrüßten den Beschluß des Berliner Gerichts. Insbesondere die Leistungen für Kinder seien völlig unzureichend und beruhten auf einem "statistischen Schrotthaufen", erklärte der Sozialverband in Berlin.

 

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Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      Verschärfung beim Sozialabbau
      Mehr Sanktionen gegen Hartz-IV-Betroffene (11.04.12)

      Weltwirtschaftskrise
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      Sozialabbau trifft Frauen härter
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      (8.03.12)

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      Welche Pläne hat GM mit Opel?
      Verkauf oder Kaputtsanierung? (16.02.12)

      Studie zu "Babyboom"-Jahrgängen
      Besonders Frauen erwartet Altersarmut (15.02.12)

      Belgien: Generalstreik gegen Sozialabbau
      richtet sich gegen EU-Regierungen (30.01.12)

      Hartz IV
      Kafkaeske Situation beim Sozialgericht (12.01.12)

      OECD-Bericht
      Kluft zwischen Arm und Reich wächst (5.12.11)

      Reallöhne in Deutschland sinken weiter
      Zuwächse von Inflation ausgefressen (5.11.11)

      Renten: Minus auch in 2012
      Inflation offiziell bei 2,5 Prozent (28.10.11)

      Schuldenkrise in den USA
      Kampf zwischen Elefant und Esel? (15.07.11)

      Trotz Lohnerhöhungen:
      Inflation bewirkt Minus (6.07.11)

      Sozialabbau -
      Renten seit 2001 real gekürzt (5.07.11)

      Sozialabbau: Bufdis
      bekommen weniger als Zivis (30.06.11)

      Bundestagsabgeordnete wollen
      mehr Diäten (27.06.11)

      Starke Zunahme von "400-Euro-Jobs"
      von "Rot-Grün" verursacht (27.04.11)

      Frauen in Konzern-Vorstände?
      Die realen Probleme bleiben ausgeblendet (8.03.11)

      Verfassungsgericht:
      Einführung von Hartz-IV war grundgesetzkonform
      (29.12.10)

      Discounter Lidl für 10 Euro Mindestlohn
      Einzelhandel fürchtet Ost-Konkurrenz (21.12.10)

      Mißbrauch von Ein-Euro-Jobs?
      Der Zweck ist Lohndumping (15.11.10)

      Real über 9 Millionen Arbeitslose
      Die Tricks der Bundesregierung (28.10.10)

      Von der Leyens Hartz-IV-Reform:
      Nominal 5 Euro Plus ab 2011 - real ein Minus (26.09.10)

      50 Milliarden Euro
      für Subventionierung des Niedriglohn-Sektors (13.08.10)

      Von der Leyens Hartz-IV-Reform
      Erneuter Sozialabbau
      trotz Urteil des Bundesverfassungsgerichts? (2.08.10)

      Pisa 2010 und die Schere
      zwischen Arm und Reich (23.06.10)

      Ausgepreßt
      Sozialabbau schwarz-gelb (7.06.10)

      Rente wird gekürzt
      "Nullrunde" heißt Minus (16.03.10)

      Hartz-IV-Regelsätze verfassungswidrig
      Herbe Niederlage für "Schwarz-Rot-Gelb-Grün" (9.02.10)

      DIW-Studie zum Vermögen in Deutschland
      Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter
      (19.01.10)

      Bilanz von fünf Jahren Hartz IV
      Repression als "Arbeitsmarkt-Reform"
      Niederiglohn-Sektor massiv ausgeweitet (19.12.09)