12.09.2014

Tierversuche in Tübingen
Leiden für die Wissenschaft?
Oder Leiden für den Sadismus?

Tierversuch
Tübingen (LiZ). Ein 29-Jähriger hatte sich in Günter-Wallraff-Manier als Tierpfleger ins Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen eingeschlichen und dort heimlich mehr als sechs Monate lang Film-Aufnahmen gemacht. 'Soko Tierschutz' hat nun eine Zusammenfassung dieser Aufnahmen ins Internet gestellt, um so die grausamen Praktiken in Tübingen anzuprangern.

Nachdem der Tierschützer gekündigt hatte, bekam er vom Tübinger Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik ein sehr gutes Zeugnis: Er habe sich stets gewissenhaft um die Tiere gekümmert. In einer Stellungnahme versucht die Instituts-Leitung nun, die erschütternden Aufnahmen damit abzutun, er handele sich bei dem Gefilmten um eine "absolute Ausnahme." Weiter heißt es darin: "Die Auswahl des Bildmaterials erfolgte allein zu dem Zweck, Tierversuche zu diskreditieren. Praktisch keine der Aufnahmen zeigt den Normalzustand in der Tierhaltung am Institut."

Das Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen versucht, sich selbst geradezu als Hort der Tierliebe darzustellen. So heißt es auf der eigenen Internet-Präsenz: "Das Wohlergehen und eine adäquate Pflege und Behandlung der Versuchstiere sind für uns dabei absolut wichtig. Wir sind ganz entschieden der Ansicht, dass Versuchstiere nicht leiden sollen, und sind der Meinung, dass eine artgerechte Haltung und Behandlung der Tiere nicht nur aus ethischen Gründen unerlässlich, sondern auch für die wissenschaftlichen Experimente durchaus notwendig sind."

Friedrich Mülln von der 'Soko Tierschutz' hatte die jetzt veröffentlichte Undercover-Recherche organisiert. Unterstützt wurden die deutschen TierschützerInnen von der britischen Union zur Abschaffung von Tierversuchen (BUAV). Sie wollen mit ihrer Veröffentlichung des Film-Materials beweisen, daß "Tierversuche eben nicht harmlos und gering beeinträchtigend sind." Weiter erklärt Mülln, die Wahrheit sei statt dessen, "daß die Tiere gebrochen werden, daß die Tiere gequält werden und daß die Tiere einen grausamen Tod in diesen Einrichtungen sterben." In rund 100 Stunden Film-Aufnahmen und seitenweise Notizen habe der 29-jährige Tierpfleger dokumentiert, was sich hinter den Mauern eines Instituts in dem so aufgeklärt wirkenden Universitäts-Städtchen Tübingen abspielt.

Auf den nun auszugsweise veröffentlichten Film-Aufnahmen ist zu sehen, wie sich Affen erbrechen, wie sie sich mit hektischen Bewegungen aus Plexiglas-Tonnen zu befreien versuchen, aus denen nur ihr Kopf herausragt. Es sind die blutenden Wunden rund um das Kopf-Implantat zu sehen. Es ist zu sehen, wie die Affen mit brutaler Gewalt aus ihren Käfigen geholt werden, um sie in die Versuchs-Apparaturen zu sperren. Es sind Versuchstiere zu sehen, die sich apathisch verhalten.

Auch die Organisation 'Ärzte gegen Tierversuche' kritisiert die Versuche in Tübingen als grausam und unnötig. Eine Sprecherin sagte, daß die Ergebnisse der Grundlagenforschung am Max-Planck-Institut nicht auf den Menschen übertragbar seien. Sie forderte das Land Baden-Württemberg auf, solche Tierversuche nicht mehr zu genehmigen - wie in Bayern und Berlin geschehen.

An den Versuchstieren - Rhesus-Affen und Langschwanz-Malakken - wird angeblich Grundlagen-Forschung betrieben. Die Leitung des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik behauptet, die Versuche dienten zur Erforschung der Funktionsweise der Wahrnehmung und des Gedächtnisses in den Gehirnen der Primaten. Seit Jahrzehnten verdichten sich jedoch Indizien, die darauf hinweisen, daß es nicht um Wissenschaft geht, sondern schlicht um Sadismus.

Nach offiziellen Angaben werden Versuchstiere in Deutschland ausschließlich für die Grundlagenforschung sowie für die Herstellung und Qualitätskontrolle von Medizinprodukten verwendet. Seit Ende der 1970er-Jahre ist jedoch bekannt und von kompetenten WissenschaftlerInnen bestätigt, daß Tierversuche bei Untersuchungen zu Human-Medikamenten oder Kosmetika wenig aussagekräftig sind.

Anfang der 1980er-Jahre konnten Biologie-StudentInnen gerichtlich durchsetzen, daß sie in der Ausbildung nicht mehr zu (sinnlosen, massenhaften) Tierversuchen gezwungen werden durften. Für wenige Jahre konnte durch öffentlichen Druck die Zahl der Tierversuche gesenkt werden. Doch mit dem Beginn der gentechnischen Forschung kehrte sich der Trend wieder um und seitdem werden von Jahr zu Jahr auch in Deutschland immer mehr Tiere zu Versuchszwecken "verbraucht".

Tierversuche in Deutschland, Zahlen von 1989 bis 2010

Die Zahl der Wirbeltiere unter den Versuchstieren in Deutschland ist mittlerweile auf über 3 Millionen angestiegen – überwiegend Mäuse und Ratten, aber auch Affen, Hunde und Katzen. Auch für die sogenannte Grundlagenforschung werden immer mehr Tiere "verbraucht". Allein im "grün-rot"-regierten Baden-Württemberg wurden nach Angaben des Wissenschaftsministeriums im Jahr 2012 mehr als 544.000 Wirbeltiere in Tierversuchen "verwendet" oder "für wissenschaftliche Zwecke" getötet.

Und offenbar finden in den Tierversuchs-Institutionen nie unangemeldete staatliche Kontrollen statt. Da ist es auch wenig aussagekräftig, wenn es von Seiten der BefürworterInnen von Tierversuchen heißt: Alle Tierversuche müssen vorab beantragt und durch die zuständigen Behörden genehmigt werden. Und vom zuständigen Regierungspräsidium ist zu vernehmen, es seien bislang keine Verstöße gegen das Tierschutzgesetz im Tübinger Max-Planck-Institut festgestellt worden.

 

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Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      Grausames Fell-Ausrupfen
      H&M und C&A: Stop von Angora-Produkten (29.11.13)

      Immer mehr Tierversuche
      in Deutschland (29.10.13)

      Fohlen mit lebenden Gen-Bakterien
      in Schockemöhle-Gestüt gespritzt (5.04.13)

      Tierversuche - Zwei weitere Fluggesellschaften
      transportieren keine "Labor-Affen" mehr (9.01.13)

      Auch 2008 stieg die Zahl der Tierversuche
      Ohne gesicherte wissenschaftliche Notwendigkeit
      (27.10.09)

      Tierversuche blockieren wissenschaftlichen Fortschritt
      'nature' publiziert kritischen Artikel (29.07.09)

      REACH bremst Tierversuche nicht
      Tierversuchen und Fall "Gentherapie" (4.10.05)

      Ergebnis einer Greenpeace-Umfrage:
      Mehrheit in Deutschland gegen Tierversuche (27.08.03)