30.05.2011

Merkels "Atom-Ausstieg"
Täuschungsversuch wie vor 11 Jahren

Wie Kretschmann 2002 einen "politischen Selbstmord" überlebte

Merkel hetzt Deutschland zum Turbo-Ausstieg Berlin (LiZ). In den Mainstream-Medien ist von einer energiepolitischen "Revolution" die Rede. Wieder einmal wird das Attribut "historisch" bemüht. Beschlossen hat "Schwarz-Gelb" nun, acht Reaktoren sofort stillzulegen und die übrigen neun Reaktoren bis 2022 abzuschalten. Umweltverbände sprechen von einem Täuschungsversuch.

Wieder einmal wird in den Mainstream-Medien die Lüge verbreitet, Deutschland werde nun eine "Ausnahmestellung" einnehmen. Spekuliert wird hierbei darauf, daß nach einem jahrelangen Verschweigen des realen Atom-Ausstiegs in Italien (1987) und Österreich (1978) sich die Menschen in Deutschland hieran nicht mehr erinnern. Zugleich wecken die Medien die Illusion, "Schwarz-Gelb" werde den Ausbau der erneuerbaren Energien in Zukunft fördern und nicht etwa weiter wie bisher bremsen. Und ebenso versuchen die Propagandisten der Atomenergie in den Mainstream-Medien die Menschen glauben zu machen, es handele sich auch diesmal um einen Atom-Ausstieg: "Union und FDP haben die Lektion von Fukushima gelernt."

Horst Seehofer gibt gar vor, "Rot-Grün" links zu überholen: "Was wir jetzt machen, haben die Grünen nicht gemacht. Das ist mehr, als die Grünen gefordert haben." Der Bayerische Ministerpräsident spielt damit auf das vermeintlich feste Ausstiegsdatum 2022 an. Beim "rot-grünen Atom-Ausstieg" des Jahres 2000 hätte sich die Stilllegung des letzten Atomkraftwerks - je nachdem wie viele vor Ablauf ihrer maximalen Reststrommenge abgeschaltet worden wären - auch bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hinziehen können. Das noch bis vor wenigen Jahren von "Rot-Grün" versprochene Ausstiegsdatum 2023 war schon damals von der Anti-Atom-Bewegung als Täuschungsversuch bezeichnet worden.

Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel verkündete Festlegung auf 2022 ist ebenso ein Täuschungsversuch. Bekanntlich kann jede zukünftige Bundesregierung einen solchen "Atom-Ausstieg" wieder rückgängig machen. Die kommende Bundestagswahl steht für 2013 an. Und niemand glaube, das würde sich "Rot-Grün" nicht trauen. Ein Blick nach Spanien genügt als Antwort: Dort hob der pseudo-sozialistische Ministerpräsident Zapatero im Juli 2009 den Stillegungsbeschluß für das AKW Garoña (Betriebsbeginn: 1970) auf und verlängerte die Genehmigung bis über das Ende seiner Amtszeit hinaus. In Schweden wurde gar ein per Volksabstimmung im Jahr 1980 beschlossener Atom-Ausstieg gekippt.

PolitikerInnen wissen heute, daß sie im Falle "unpopulärer" Entscheidungen die den Erwartungen ihrer Auftraggeber entsprechen, nach dem Ende ihrer Karriere mit Pöstchen belohnt werden, auf denen sie ein Vielfaches dessen verdienen, was selbst ein politisches Spitzenamt abwirft. Und sie haben die Erfahrung gemacht, daß die WählerInnen sehr vergeßlich sind.

Vor wenigen Jahren noch hatte der heutige pseudo-grüne baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann von einem "politischen Selbstmord" gesprochen, an den sich heute nur noch wenige erinnern. Der erste mit dem "rot-grünen Atom-Ausstieg" des Jahres 2000 verbundene Betrug war bereits im Jahr 2002 zu Tage gekommen. Das AKW Obrigheim wurde nicht wie versprochen kurz nach Ende der ersten "rot-grünen" Legislaturperiode stillgelegt. Nach der Bundestagswahl 2002 rückte der wiedergewählte Bundeskanzler Gerhard Schröder damit heraus, daß es eine Geheimabsprache gab, wonach entgegen dem veröffentlichten Vertragstext zum angeblichen Atom-Ausstieg im Falle des AKW Obrigheim auch eine Strommengen-Übertragung von Neu auf Alt erlaubt sei.

Der 'spiegel' muß von dieser Geheim-Klausel schon vor der Bekanntgabe gewußt haben - ansonsten sind seine in einem Interview mit Winfried Kretschmann kurz nach der Bundestagswahl im Oktober 2002 gezielt gestellten Fragen nicht erklärbar. Die Interviewer stellten die für Ende 2002 angekündigte Stilllegung des AKW Obrigheim in Frage und wollten von Kretschmann wissen:

"Was passiert, wenn sich Trittin entgegen Ihrer Erwartung einem Machtwort des Kanzlers beugen muß?"

Kretschmann: "Das wird nicht passieren. Wir werden im Koalitionsvertrag festhalten, daß es zu einer Betriebsverlängerung nicht kommt."

Nachfrage des 'spiegel' (damals trauten sich 'spiegel'-JournalistInnen so etwas noch): "Was ist, wenn Sie sich täuschen und Ihnen bei Ihrem Parteitag an diesem Wochenende ein Kompromiß vorgelegt würde, wonach Obrigheim weiterlaufen darf, wenn auch keine volle Wahlperiode lang?"

Kretschmann: "Ich bin ganz sicher, daß der Parteitag einer substanziellen Verlängerung der Laufzeit nicht zustimmen wird. Wir können unsere Glaubwürdigkeit nicht in einer so zentralen Frage aufs Spiel setzen. Das wäre politischer Selbstmord."

Dieses Interview erschien in der 'spiegel'-Ausgabe 42 / 2002 am 14. Oktober 2002. Am 13. Dezember 2002 veröffentlichte der "grüne" Atom-Minister Jürgen Trittin eine Pressemittelung, in der er sein Einverständnis mit der Laufzeitverlängerung des AKW Obrigheim bis 2005 bestätigte. Wie kaum anders zu erwarten nahm das Image der "Grünen" Dank wohlwollender Beihilfe der Mainstream-Medien keinen Schaden und Kretschmann überlebte den eigenen "Selbstmord".

"Rot-Grün" versucht nun - ebenso wie "Schwarz-Gelb" vor elf Jahren - den verkündeten Atom-Ausstieg zu beglaubigen. Bei ein wenig Nörgelei am Rande erklärte der "rote" Partei-Vorsitzende und frühere Atom-Minister Sigmar Gabriel: "Aus meiner Sicht ist das heute ein großer Tag der Genugtuung - für alle Atomkraftgegner, aber auch für die SPD." Und auf Seiten der "Grünen" versucht deren Vorsitzender Cem Özdemir von der eigentlichen Frage, nämlich ob Versprochenes nach 2013 tatsächlich realisiert wird, abzulenken: "Es bestehen nach wie vor große Zweifel daran, ob es die Regierung ernst meint mit dem Konsens. Das grüne Siegel bekommt man nur, wenn der Inhalt stimmt." Özdemir versucht so zu suggerieren, es käme auf den Inhalt der Versprechungen an und nicht darauf, ob sie von einer 2013 gewählten Bundesregierung eingehalten werden.

Die größte deutsche Umwelt-Organisation Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) wies umgehend darauf hin, daß der von Merkel verkündete "Atom-Ausstieg" kein Konsens mit den Umweltverbänden bedeute. Merkel stilisiere sich als "Mutter Theresa der Energiewende". Der versprochene schnellstmögliche Atomausstieg werde vertagt. Die von Merkel verkündete Fristsetzung bis 2022 sei "keine akzeptable Antwort auf die Reaktorkatastrophe von Fukushima." Hubert Weiger, BUND-Vorsitzender und in den 1980er Jahren aktiv im Kampf gegen die WAA Wackersdorf, zeigt sich skeptisch: Merkel setze "weiter auf eine Verschleppung des Atomausstiegs bis 2022. Immer noch gibt es Hintertüren, die ein Rollback beim Atomausstieg ermöglichen. Jede Hintertür für den endgültigen und sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie ist Gift für die dringend erforderliche Energiewende."

Selbst der als konservativ geltende Umweltverband WWF bemerkt: "Ein verbindlicher Auslaufpfad für die verbleibenden Kraftwerke fehlt." Und außerdem weist der WWF auf eine verräterische Komponente der jetzt verkündeten "schwarz-gelben" Atom-Politik hin: Die Entwicklung der Kernfusion soll weiterhin mit Milliarden subventioniert werden. "Man kann nicht gegen Atomenergie und gleichzeitig für Kernfusion sein," sagte WWF-Expertin Regine Günther.

 

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Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      160.000 DemonstrantInnen in 21 Städten
      für Atom-Ausstieg auf der Straße (28.05.11)

      20.000 beim AKW Beznau
      Größte Schweizer Anti-AKW-Demo seit 25 Jahren
      (22.05.11)

      Anti-AKW-Referendum in Sardinien
      97,64 Prozent gegen Wiedereinführung (17.05.11)

      Atom-Ausstieg teuer?
      Im Gegenteil: Ersparnis von jährlich
      mehr als 8 Milliarden Euro (10.05.11)