München (LiZ). Tausende weibliche Embryos blieben in den vergangenen Jahren wegen der
radioaktiven Strahlung aus Atomkraftwerken auf der Strecke - allein in
Deutschland und der Schweiz. Dies ist das Ergebnis einer aktuell
vorgelegten wissenschaftlichen Studie von Ralf Kusmierz, Hagen Scherb und
Kristina Voigt.
Die WissenschaftlerInnen untersuchten die Anzahl der Geburten von Jungen
und Mädchen in Abhängigkeit von der Wohndistanz zum nächstgelegenen
Atomkraftwerk. Sie entdeckten einen hochsignifikanten Zusammenhang: In
einem Umkreis von 35 Kilometern um deutsche und Schweizer Atomanlagen kam
es in den vergangenen 40 Jahren zu einem Verlust von 10.000 bis 20.000
Lebendgeburten bei Mädchen.
Normalerweise besteht ein Verhältnis von 105 bis 106 lebend geborenen
Jungen zu 100 lebend geborenen Mädchen. Dieses Verhältnis ändert sich
nur in Stress-Situationen wie Krieg oder bei der radioaktiven Bestrahlung
der Bevölkerung. Nach dem Super-GAU von Tschernobyl 1986 veränderte sich
in jenen Gebieten Europas und Asiens, die durch die radioaktive Wolke
verseucht worden waren, sprunghaft und anhaltend dieses
Zahlenverhältnis. Auch nach 1986 wurden signifikant weniger Mädchen
geboren.
Der Grund für die unterschiedliche Auswirkung der Strahlenbelastung auf
männliche und weibliche Embryos liegt darin, daß letztere deutlich
strahlungsempfindlicher sind. Grundsätzlich reagieren alle Embryos
äußerst strahlungsempfindlich und je kleiner sie sind, desto
empfindlicher sind sie. Dies läßt sich durch letale Mutationen, also
tödliche Veränderungen im Erbgut der Keimzellen oder der Embryos
erklären, bedingt durch die Verstrahlung mit radioaktiven Stoffen wie
Cäsium-137. Es kommt dann zu spontanen Aborten von befruchteten Eizellen
oder von Embryos.
Männliche Embryos sind davon ebenfalls betroffen: Beobachtungen aus
Dänemark vor und nach 1986 deuten darauf hin, daß die radioaktive
Verstrahlung durch die Tschernobyl-Katastrophe auch viele fehlende
Jungen-Geburten verursacht hat. Auf etwa drei fehlende Mädchen-Geburten
kommt eine fehlende Jungen-Geburt.
Es ist also sehr wahrscheinlich, daß die radioaktive Verstrahlung durch
die Tschernobyl-Katastrophe entsprechend den vorliegenden Daten in Europa
und Teilen Asiens zum Verlust von mindestens einer Million Kindern
geführt hat. Dies ergibt sich auch aus dem Vergleich mit den Zahlen aus
den USA, wo die Tschernobyl-Katastrophe wegen der Distanz keine
erkennbaren Folgen hatte.
Die Daten der Studie sind hochsignifikant und halten auch strengen
statistischen Zusatztests wie etwa einer Sensitivitätsanalyse stand.
Selbstverständlich beweist eine Statistik keinen ursächlichen
Zusammenhang. Doch anders als im Falle der im Dezember 2007
veröffentlichten deutschen Kinderkrebs-Studie, auf welche die Atom-Lobby
mit der Behauptung reagierte, die Leukämie-Häufung ließe sich auch auf
andere Ursachen zurückführen, muß in diesem Falle angenommen werden,
daß andere Ursachen als die beim sogenannten Normalbetrieb von
Atomkraftwerken abgegebene Radioaktivität für die fehlenden
Mädchen-Geburten nicht in Frage kommen.
Darüber hinaus kann es durch die Strahlungsbelastung zusätzlich zu
Erbgutveränderungen kommen, die nicht sofort für den Embryo tödlich
wirken, sondern erst Jahre später zu schweren Erkrankungen wie Leukämie
führen.
In einem Interview mit der Schweizer Wochenzeitung WOZ erklärte der
Basler Krebsforscher Claudio Knüsli, die neue deutsche Studie müsse sehr
ernst genommen werden. Er bestätigte, daß es sich bei den drei
WissenschaftlerInnen um renommierte Fachleute handelt. Zwei von ihnen
arbeiten am Münchner Helmholtz-Forschungszentrum für Gesundheit und
Umwelt, Kusmierz ist an der Universität Bremen tätig. Knüsli erinnert
daran, daß laut Weltgesundheitsorganisation WHO das Erbgut das kostbarste
Gut der Menschheit sei.
Die Ergebnisse dieser Studie werden in naher Zukunft einen
Glaubwürdigkeits-Test für die sogenannten Christdemo- kratInnen bieten,
die sich ansonsten vehement für den Schutz des ungeborenen Lebens
einsetzen: Bleiben sie konsequent bei ihrer fundamentalistischen
Einstellung zum Schutz des ungeborenen Lebens oder wiegt am Ende doch der
Profit mehr als die Moral?
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Hiroshima, Nagasaki und die Atomkraft
- strahlende Folgen (8.07.09)
Kinderkrebs auch am Standort
des 1989 stillgelegten THTR Hamm-Uentrop? (25.04.08)
Krebs-Häufung in der Nähe von AKWs
Neue Studie im Auftrag des
Bundesamtes für Strahlenschutz (7.12.07)
Signifikant erhöhtes Leukämie-Risiko bei Atomkraftwerken
Wissenschaftliche Studie über 136 AKWs (21.07.07)
Bayerische AKWs rufen nachweislich
Krebs bei Kindern hervor (14.02.01)
Dokumentation der Orginalarbeit
von Dr. Alfred Körblein (14.02.01)
Die stille Katastrophe
Info-Serie Atomenergie - Folge 8