8.11.2017

Info-Serie Atomenergie
Folge 9

Der italienische Atom-Ausstieg

Am 8. November 1987
fand das italienische Atom-Referendum statt
Warum hatte Italien mit dem Atom-Ausstieg Erfolg?

Atom-Ausstieg Italien - Grafik: Samy - Creative-Commons-Lizenz Namensnennung Nicht-Kommerziell 3.0
Die sogenannte zivile Nutzung der Atomenergie begann in Italien zu Beginn der 1960er-Jahre. Eine bedeutende Rolle spielte der Physiker und Atom-Pionier Enrico Fermi. Dieser hatte bereits 1938 den Nobelpreis für Physik erhalten und wurde durch die erste kontrollierte Kettenreaktion weltbekannt.

1986 waren in Italien drei nach heutigen Verhältnissen relativ kleine Atomkraftwerke gebaut. Im internationalen Vergleich waren sie zur Zeit ihrer Inbetriebnahme relativ groß:
Das AKW Caorso in der Region Emilia bei Piacenza - 840 MW
Das AKW Trino Vercellese I in der Region Piemeont - 270 MW
Und das AKW Latina in der Region Latinum - 153 MW

Nach zeitlichen Verzögerungen beim Bau ging das AKW Caorso erst 1981 in Betrieb. Die drei AKWs lieferten bei einer Leistung von zusammen 1.260 MW rund 4 Prozent des italienischen Stroms. Zeitweilig waren in Italien vier Atomkraftwerke in Betrieb - das AKW Garigliano (150 MW) ging 1964 ans Netz und wurde im Jahr 1982 nach nur 18 Jahren Betrieb stillgelegt. Noch bis 1983 wurde 25 Prozent des italienischen Stroms aus regenerativen Energien - sprich: aus Wasserkraft - erzeugt.

1977 hatte die italienischen Industrie der Regierung das Ziel vorgegeben, bis 1985 - also innerhalb von acht Jahren 12 Reaktoren à 1000 MW zu bauen. Diese Zielvorgabe wurde sowohl von der DC (Democrazia Cristiana), einer Partei, die im politischen Spektrum ungefähr der deutschen CDU entsprach, als auch der KPI (Kommunistische Partei Italiens) unterstützt.

Bereits 1979, beim Baubeginn des AKW Montalto di Castro stellten sich UmweltschützerInnen in den Weg. Es ging nicht allein um den Widerstand gegen die Atomenergie, sondern auch um die Sorge um ein nahegelegenes Vogelschutzgebiet. Der Ort Montalto di Castro liegt rund 100 Kilometer nördlich von Rom am Tyrrhenischen Meer in der - damals - einsamen, paradiesisch gelegenen Küstenzone der Maremma.

Ebenfalls 1979 wurde nach dem österreichischen Vorbild (Atom-Ausstieg per Volksentscheid 1978) beim italienischen Kassationshof die Forderung nach Volksentscheid über einen Atom-Ausstieg mit den nötigen 50.000 Unterschriften eingereicht - vergeblich.

1980 - ein Jahr nach Harrisburg - gab es eine weitere Unterschriftensammlung für den italienischen Atom-Ausstieg.

1986 waren die Reaktionen in der Bevölkerung nach der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl in Italien besonders heftig, während sie in Frankreich dank der perfekt zentralisierten, antidemokratischen Informationspolitik nahezu gleich Null waren und in Deutschland zwischen wenig koordinierten Protesten, Gleichgültigkeit und Ausreise schwankten. In Frankreich gab es etwa keinerlei Beschränkungen beim Gemüse und der radioaktive Niederschlag der Wolke aus Tschernobyl, die eine Spur über den gesamten europäischen Kontinent gezogen hatte, wurde in Frankreich offiziell geleugnet.

In den italienischen Medien wurde die Angst der Menschen nahezu durchweg als "Hysterie" abgetan, was nicht selten mit "schlechter Information" erklärt wurde. Beispielsweise hatte der italienische Zivilschutz wenige Tage nach dem 26. April jegliche Gefahr für Personen ausgeschlossen. Kurz darauf verbot Innenminister Degan den Verzehr von Frischgemüse. Blattgemüse und Spinat mußten großflächig vernichtet werden. Der Konsum von Milch wurde stark eingeschränkt. Beispielsweise mußte der Bürgermeister der Adria-Provinz Pesaro zeitweilig wegen Grenzwertüberschreitungen den Verkauf von Ziegen- und Schafmilch verbieten.

Gleichzeitig wurde bekannt, daß die von den Behörden veröffentlichten Meßergebnisse bei Lebensmitteln über die lokal alarmierend hohe Radioaktivität hinweg getäuscht hatten.

Noch 1986 wurden weitere Planungen der italienischen Industrie und der Regierung bekannt, wonach bis 1995 weitere sieben AKWs mit je zwei Reaktoren à 1000 MW gebaut werden sollten. Diese Planung hatte breite Zustimmung im italienischen Parlament inklusive der KPI gefunden.

Seit Oktober 1986 war das AKW Caorso angeblich wegen "vorübergehender Prüfungen" außer Betrieb. Der Bürgermeister von Montalto di Castro, Leo Lupidi (Partito Socialiste), richtete gegen den Weiterbau am dortigen AKW immer neue rechtliche Hürden auf. Er bestätigte damit die ungewöhnlich hohe Machtkonzentration im Amt italienischer Bürgermeister.

Den anderen Pol in der italienischen Auseinandersetzung um die Atomenergie markierte der Präsident des italienischen Elektrizitäts-Konzerns ENEL, Francesco Corbellini. Nur wenige Monate nach der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl erklärte er: "Wir können die nukleare Option nicht rückgängig machen, wir riskieren sonst von 1992 an totale Finsternis im Lande."

Bis Januar 1987 sammelte die italienische Anti-Atom-Bewegung eine ausreichende Zahl von Unterschriften, um ein Referendum über den Ausstieg aus der Atomenergie durchzusetzen. Das italienische Verfassungsgericht entschied, daß das geforderte Referendum zwischen 15. April und 15. Juni 1987 durchgeführt werden solle.

Bis 1987 war Giulio Andreotti noch einer der maßgeblichen Politiker Italiens. Der Niedergang seiner Partei, der DC, ist eng mit dem in Italien erfolgreichen Atom-Ausstieg verknüpft. Die Democrazia Cristiana war seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die dominierende Partei des Landes. Sie war in dieser Zeit an jeder Regierung beteiligt und stellte fast alle Ministerpräsidenten. Die vier häufigsten Koalitionspartner der DC waren die Italienische Sozialistische Partei (PSI), die Italienische Sozialdemokratische Partei (PSDI), die Republikaner (PRI) und die Liberalen (PLI). Was in Deutschland mit der Flick-Affaire und dem Parteispendenskandal nur wenig politische Auswirkungen haben sollte, führte in Italien Mitte der 1980er-Jahre wegen Korruptionsskandalen und Mafia-Kontakten zum Zusammenbruch der DC. Giulio Andreotti - als eine der zentralen Figuren der DC - war durchgehend von 1983 bis 1989 Außenminister in verschiedenen Koalitionsregierungen. Unstrittig ist heute, daß Andreotti in seiner Zeit als führender italienischer Politiker Kontakte zur Mafia hatte. So traf er sich 1987 mit Salvatore Riina, dem damals mächtigsten sizilianischen Mafioso, der seit eineinhalb Jahrzehnten flüchtig war und für etwa 1000 Morde verantwortlich sein soll. Im großen Mafia-Prozeß von 1986/87 in Palermo wurden Hunderte von Mafiosi verurteilt.

Giovanni Goria (DC), erst 44 Jahre alt, wurde im August 1987 Ministerpräsident. Er regierte mit Hilfe einer 5-Parteien-Koalition bestehend aus DC, PCI ("Sozialisten"), Republikaner, sozialdemokratische Partei (kleiner als die PCI) und Liberale. Ciriaco de Mita war zu jener Zeit Parteisekretär der DC - also "Parteichef".

Mit verschiedenen Tricks versuchte das italienische Parlament das Referendum weiter und weiter hinauszuzögern. Wegen einer angekündigten Verschiebung auf einen Termin "frühestens im Sommer 1988", kam es zu heftigen Protesten der Anti-Atom-Bewegung. Der Zusammenbruch der "christ-demokratischen" Partei DC in dem beginnenden Korruptions-Skandal half dabei, daß das Referendum noch im Jahr 1987, am 8. November, stattfinden konnte.

In den Wochen vor dem Referendum versuchten die italienischen Medien unisono, dessen Bedeutung herunterzuspielen. Der damalige Italien-Korrespondent der 'Badischen Zeitung', Wolfgang Prosinger, stellte in einem Artikel am 7. November 87 das Referendum als Groteske und Farce dar:
"...kaum mehr als eine Farce."
"Bei den fünf Fragen, die den Italienern vorgelegt werden, geht es um sehr wenig."
"...zur Debatte steht keineswegs der Ausstieg aus der Atomwirtschaft."

Da bereits absehbar war, daß eine deutliche Mehrheit in Italien für den Atom-Ausstieg stimmen würde, verlegten sich die großen Parteien auf eine Verwirrungs-Taktik. Sie empfahlen - obwohl sie durch die Bank als Pro-Atom-Parteien galten - beim Referendum mit "Ja" zu stimmen. Begründet wurde dies so: Es gehe lediglich darum, drei Gesetze abzuschaffen, die Genehmigungsverfahren bei AKWs und Beteiligungen an ausländischen AKWs regelten. Damit hoffen sie, die Folgenlosigkeit des Referendums vorherzubestimmen und damit zugleich das intendierte Ziel des Referendums als Plebiszit gegen Atomenergie auszuhebeln.

Bei zwei der Gesetze, die beim Referendum zur Entscheidung standen, handelte es sich tatsächlich um Gesetze, die keinerlei Bezug zur Atomenergie aufwiesen und einfach ans Referendum angehängt wurden. Zu berücksichtigen ist die italienische Besonderheit, daß in Referenden nicht wie beispielsweise in der Schweiz über - wie auch immer zustande gekommene - Fragestellungen abgestimmt werden darf, sondern ausschließlich über die Abschaffung bereits bestehender Gesetze.

Darüber hinaus ordnet die italienische Regierung im November 1987 eine Unterbrechung der Bauarbeiten am AKW-Projekt Montalto di Castro an, um den Atomkraft-GegnerInnen Wind aus den Segeln zu nehmen.

Bei der Volksabstimmung am 8. November 1987 stimmten 86 Prozent der Bevölkerung aus der Region um Montalto di Castro gegen Atomenergie - italienweit: 72 Prozent. Die Beteiligung betrug 65,2 Prozent. Laut italienischer Verfassung muß das Ergebnis eines Volksentscheids innerhalb von 120 Tagen umgesetzt werden.

Doch nun begann der eigentliche Kampf um die Durchsetzung des Atom-Ausstiegs.

Sofort nach dem Bekanntwerden des Ergebnisses des Referendums, versuchen die Medien erneut Verwirrung zu stiften. Die Nachrichten-Agentur dpa verbreitete:
"Es wird ein Moratorium geben, bei dem die Arbeit an vier noch nicht fertiggestellten Atomkraftwerken auf längere Zeit ausgesetzt wird. (...) Was mit den drei bereits bestehenden Atomkraftwerken geschehen soll, ist noch unklar."

Aus heutiger Sicht und mit dem Wissen um den Erfolg des italienischen Atom-Ausstiegs wirken die damaligen Berichte der Medien geradezu grotesk.

So schrieb die' Süddeutsche Zeitung' am 26. November 1987:
"Die überwiegende Volksmeinung zu ignorieren wäre schwierig in einem Land mit schwachen Koalitionsregierungen."

Und nochmals die' Süddeutsche Zeitung' am 21. Dezember 1987:
"... Energieplan geändert, der den Bau von 10 neuen Atomkraftwerken bis Mitte der 90er Jahre vorsah."

'Badische Zeitung' vom 19. Dezember 1987:
"Eines der vier bereits existierenden Atomkraftwerke, die nach dem Schock von Tschernobyl aber alle abgeschaltet worden waren, soll geschlossen, ein zweites auf Erdgas umgestellt werden."

'Frankfurter Allgemeine Zeitung' vom 18 November 1987:
Überschrift
"Italien sucht Übergangslösung
Trotz Referendum kaum Ausstieg aus der Kernenergie"
Im Artikel heißt es aber, im Referendum habe "eine deutliche Mehrheit gegen Kernenergie" votiert.
Und: "...trotzdem gilt es als wenig wahrscheinlich, daß sich Italien (...) völlig aus der Kernenergie zurückzieht."

Weiter wurde es so dargestellt, als hätten sich alle italienischen Parteien für das Votum für den Atom-Ausstieg ausgesprochen, doch plädierten nun für eine "Übergangslösung". Nach der Interpretation der 'FAZ' bedeutete dies den Weiterbetrieb des AKW Caorso sowie die Fertigstellung des AKW Montalto di Castro. "Selbst der Bau des geplanten Kernkraftwerks von Trino Vercellese ist nicht auszuschließen." (gemeint war Trino Vercellese II)

Viel wird auch darüber spekuliert, ob es purer Zufall war, daß die drei Atomkratwerke Caorso, Trino Vercellese und Latina in den Monaten vor dem Referendum abgeschaltet waren und die angegebenen Gründe sich als Vorwände erwiesen hatten.

Einige Jahre später wird der italienische Atom-Ausstiegin Europa mit dem Argument heruntergespielt, daß es ja lediglich um drei Atomkraftwerke gegangen sei. Von den vier im Bau befindlichen - insbesondere vom AKW Montalto di Castro - ist nicht mehr die Rede. Doch meist blieb in den europäischen Medien der italienische Atom-Ausstieg überhaupt ausgeblendet. Und der angebliche deutsche Atom-Ausstieg wird gar als "Sonderweg" in Europa dargestellt.

Im März 1988 (29.03.1988) hieß es noch in einem Artikel in der 'Badschen Zeitung' unter dem Titel "Die Stallwache ruht und kassiert" (Autor: Klaus Arnsperger), die endgültige Stilllegung oder der Weiterbau des bereits zu 72 Prozent fertiggestellten AKW bei Montalto di Castro sei eine "Kernfrage italienischer Innenpolitik". In diesem Artikel hieß es weiter, es seien "Italiens Parteien bis heute noch immer uneins über die Zukunft der Nuklearindustrie".

Pro Atomenergie waren im Italien der 1980er-Jahre mehrheitlich und an der Parteispitze: Liberale (PLI) und Republikaner (PRI), zwei Mini-Parteien, die aber für De Mita (DC) unverzichtbar waren, um die Regierungs-Koalition bilden zu können.

Angeblich gespalten war die DC - deren Parteispitze jedoch eindeutig pro Atomenergie ausgerichtet war und desgleichen die KPI, die sich in der Opposition befand. In der politischen Praxis eindeutige Atomenergie-Befürworter und in Worten gelegentliche Atomenergie-Skeptiker waren "Sozialisten" (PSI) und "Sozialdemokraten" (PSDI) - beides relativ kleine Parteien.

Als Atomenergie-Gegner galten Verdi (die italienische grüne Partei) und die Partito Radicale. Letztere war nicht im Parlament vertreten und engagierte sich in BIs gegen Atomenergie.

In der DC-Führung wurde die Position vertreten, daß nach dem Referendum maximal drei AKWs politisch durchsetzbar seien - dies hätte beispielsweise praktisch mit dem Abschalten des kleinsten, des AKW Latina und der Fertigstellung des AKW Montalto di Castro umgesetzt werden können. Die italienische Energiewirtschaft fordert dagegen als Minimum die Durchsetzung von fünf AKWs.

Die "Sozialisten" um Bettini Craxi lavierten und sprachen sich für den Weiterbetrieb des AKW Caorso und die Fertigstellung des AKW Montalto di Castro aus. Kurze Zeit zuvor hatten sie sich im Sommer 1987 unter dem noch frischen Eindruck der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl noch öffentlich für den Atom-Ausstieg ausgesprochen und angeblich deshalb die Koalition mit der DC platzen lassen. Doch bereits im März 1988 unterzeichnet die PCI-Führung als Teil der Regierungskoalition unter Giovanni Goria (DC) einen Beschluß zur Wiederaufnahme der Bauarbeiten am AKW Montalto di Castro. Die PCI galt daher weiter als "politisch zuverlässig". Während die Führung am Pro-Atom-Kurs festhielt, engagierte sich lediglich die Parteibasis mehrheitlich für den Atom-Ausstieg.

Der noch pro forma amtierende Regierungs-Chef Goria (DC) - die Koalition aus fünf Parteien war zerbrochen - , setzte am 10. März 1988, zwei Tage vor seinem feststehenden Rücktritt, den Beschluß durch, das Kraftwerk Montalto di Castro "als ein Nuklearkraftwerk zu bauen". Alle anderen Alternativen, etwa der Betrieb mit Gas, Kohle oder Öl, wurden verworfen.

Ebenfalls im März protestierten 10.000 Menschen bei Montalto di Castro auf der Straße 'Via Aurelia' und blockierten zugleich die Schienen der nord-südlich verlaufenden Eisenbahnlinie . Die 'Via Aurelia' ist die Hauptverbindungs-Achse im Straßenverkehr zwischen Nord- und Süditalien.

Die italienische Polizei versucht die Via Aurelia zu räumen und schießt Tränengasgranaten in die Menge. Laut 'Frankfurter Rundschau' (2. April 1988) handelte es sich um eine Demonstration für den Weiterbau des AKW Montalto di Castro.

Mit den Protesten sind Streiks der Baustellenarbeiter verbunden. Diese können eine Sonderregelung durchsetzen: Die Regierung beschließt, die streikenden Arbeiter voll weiterzubezahlen, bis eine politische Einigung über Weiterbau oder Stilllegung getroffen sei. Der Volksentscheid wird also nicht als Entscheidung akzeptiert. Es wird auf Zeit gespielt.

Den Arbeitern wurden entsprechend Regierungsbeschluß mehr als 1 Milliarde Lire (dies entsprach 1,4 Millionen DM) pro Tag ausbezahlt - und zwar nicht aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung, sondern aus Steuermitteln.

Am 17. April erschien die 'Zeit' (Nr. 17, 17. - 22. April 1988) mit der Schlagzeile:
"Rom steigt aus"
Hier ist zu lesen, daß die heftigen Auseinandersetzungen an der Via Aurelia zwischen "Polizei und Umweltschützern" ausgetragen worden seien. Des weiteren ist zu lesen, daß Bettino Craxi (PSI-Chef) in seiner kurzen Zeit als Ministerpräsident eine Entscheidung vermieden habe. Zugleich wird in diesem Artikel die Interpretation vertreten, das Referendum sei bewußt so angelegt worden, daß "keine eindeutige Aussage für oder gegen Atomenergie" möglich gewesen sei.

Zur Rolle der PSI, die mit der deutschen SPD als Schwesterpartei verbunden war:
Uli Maurer reiste als damaliger baden-württembergischer SPD-Landesvorsitzender zu einem gemeinsamen Treffen mit der PSI ins Forschungszentrum ISPRA am Lago Maggiore. Die PSI war hochkarätig vertreten mit Walter Maroni, dem Vorsitzenden der Lombardischen PSI, und Luigi Vertemati, dem lombardischen Umweltminister. Die baden-württembergischen SPD-Mitglieder, bei denen es sich um standhafte AtomkraftgegnerInnen handelte, waren heftig überrascht, als sich herausstellte, daß die PSI-Spitzenleute für neue "absolut sichere" Atomkraftwerke eintraten.

Im Dezember 1988 wurde das AKW Latina endgültig geschlossen. Ebenfalls Ende 1988 fiel die Entscheidung, das AKW Montalto di Castro als kombiniertes Öl-Gas-Kraftwerk fertigzustellen. Das AKW Trino Vercellese und das AKW Caorso waren bereits vor 1987 angeblich wegen betriebsbedingter Störungen außer Betrieb. Letzteres war 1986 nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl abgeschaltet worden.

Am 8. Juli 1988 titelte die 'FAZ':
"Italien verzichtet auf Kernkraft"

In der Stuttgarter Zeitung hießt es am 13. Juli 1988 unter der Überschrift "Rom will energisch Energie sparen", der italienische Atom-Ausstieg koste bis zur Jahrtausendwende zwischen 17 und 21 Milliarden Mark. Dies bedeute, daß der Strompreis in Italien jedes Jahr "um 10 Prozent" erhöht werden müsse.

Noch bis 1990 gab es ein heftiges Hin- und Her, das durch folgende Taktik gekennzeichnet war: Dieselben Medien, die den italienischen Volksentscheid 1987 herunterzuspielen versuchten, verkündeten 1988 vorzeitig den Atom-Ausstieg, um das Publikum in Sicherheit zu wiegen. Im Hintergrund stand der Plan, den italienische Atom-Ausstieg alsbald zu kippen.

Neben der Besetzung der Via Aureli, den Großdemonstrationen am AKW Montalto di Castro und dem Zusammenbruch der staatstragenden DC unter den Korruptionsskandalen, spielte beim italienischen Atom-Ausstieg sicherlich auch der Fiat-Konzern eine nicht unbedeutende Rolle. Fiat hatte sich bereits 1984 aus dem Atomgeschäft ausgeklinkt und die eigenen Produktions- und Entwicklungskapazitäten für den Reaktorbau an eine Staatsholding verkauft. Hierdurch fiel ein bedeutender Machtfaktor gegen einen Atom-Ausstieg vorzeitig aus.

Fast drei Jahre lang stand es auf der Kippe, ob die italienischen Atomkraft-GegnerInnen den Atom-Ausstieg durchsetzten könnten. Erst 1990 beschloß die italienische Regierung, die letzten Atomkraftwerke abzureißen. Die letzten beiden waren das AKW Trino Vercellese und das AKW Caorso. Deren Entsorgung kostete nach offiziellen Angaben umgerechnet 1,4 Milliarden Mark.

Daß auch dies keine endgültige Entscheidung bedeutete und die italienische Bevölkerung weiterhin wachsam bleiben muß, bewies die Regierung Berlusconi im Jahr 2003. In der abgelegenen Region Basilicata - am Südzipfel Italiens - sollte ein Endlager für radioaktiven Müll eingerichtet werden. Doch die Bevölkerung konnte mit Demonstrationen und der Blockade von Autobahnen die gesamte Region lahmlegen und so Ministerpräsident Berlusconi zur Aufgabe der Pläne zwingen.

Doch im Frühjahr 2009 verkündete Silvio Berlusconi - nach einer zweijährigen Pause erneut italienischer Ministerpräsident - eine "Renaissance der Atomenergie" in Italien. Allerdings findet sich in keiner Region Italiens - gleichgültig von welcher Partei sie regiert wird - eine Zustimmung für einen AKW-Standort.

Um dennoch einen Wiedereinstieg in die Atomenergie durchzusetzen, hatte sich Berlusconi eine schlaue Taktik überlegt. Er lancierte ein nationales Referendum über den Wiedereinstieg in die Atomenergie und wollte dieses zu einem vorgezogenen Termin zunächst nur auf Sardinien stattfinden lassen. Er hoffte offenbar, die überwiegend verarmte Bevölkerung Sardiniens mit dem vollen Einsatz seiner Medienmacht auf seine Seite ziehen zu können, um dann Wochen später nach einer vorgeblichen Trendwende auch auf dem italienischen Festland die Mehrheit zu erringen. Doch am 11. März 2011 durchkreuzte die Atom-Katastrophe von Fukushima Berlusconis Pläne. Bei der Abstimmung Mitte Mai 2011 auf Sardinien stimmten bei einer Beteiligung von über 59 Prozent über 97 Prozent gegen den Wiedereinstieg in die Atomenergie.

Berlusconi wollte daher die Notbremse ziehen und die weitere Durchführung des Referendums in den anderen Landesteilen verhindern: "Wenn wir nun das Referendum abgehalten hätten, wäre die Atomkraft für viele Jahre nicht mehr möglich gewesen. Die Regierung hat deswegen sehr verantwortlich dieses Moratorium zur Atomkraft beschlossen, damit sich die Situation in Japan klärt und daß man nach ein oder zwei Jahren mit einer öffentlichen Meinung rechnen kann, die sich der Notwendigkeit der Atomkraft bewußt ist."

Allerdings fand das Referendum gegen den Willen Berlusconis dann im Juni doch in den übrigen Landesteilen Italiens statt. Bei rund 57 Prozent Wahlbeteiligung stimmten über 90 Prozent gegen den geplanten Wiedereinstieg Italiens in die Atomenergie.

Weiterhin ist Wachsamkeit geboten, denn die zitierte Äußerung Berlusconis läßt erkennen, daß er und die hinter ihm stehenden mächtigen Interessen-Verbände auch dieses Referendum nicht akzeptieren, sondern in einigen Jahren erneut versuchen werden, ihre Pläne durchzusetzen. Der Kampf ist also auch in Italien noch nicht endgültig entschieden.

 

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Die übrigen Folgen der Info-Serie:

  1 Grundlagenwissen

  2 Der deutsche "Atom-Ausstieg"

  3 Die Subventionierung der Atomenergie

  4 Der siamesische Zwilling: Atombombe

  5 Umweltverbrechen Uran-Abbau

  6 Uran-Ressourcen und die Zukunft der Atomenergie

  7 Die Geschichte der Atom-Unfälle

  8 Die stille Katastrophe

 

10 Schwedens "Atom-Ausstieg"

11 Atomenergie in Frankreich

12 Das ungelöste Problem der Endlagerung