Sendai (LiZ). In der Nacht von Freitag auf Samstag ist es vermutlich zu einer Wasserstoff-Explosion im Reaktorgebäude I des AKW Fukushima Daiichi gekommen. Ob dabei auch der Reaktordruckbehälter beschä- digt wurde, ist wegen einer de-facto-Nachrichtensperre und widersprüchlichen Aussagen des japanischen Regierungssprechers bislang nicht in Erfahrung zu bringen.
Hier zunächst ein Überblick über die gesicherten Fakten auf dem Stand von
Sonntag, 13. März, 16 Uhr
In Japan gibt es 17 AKW mit insgesamt 54 Reaktoren.
Hauptsächlich vom Erdbeben und dem darauf folgenden Tsunami scheint das AKW Fukushima Daiichi betroffen zu sein (Das Atomkraftwerk wird auch als Fukushima 1 bezeichnet):
Dieses AKW umfaßt 6 Siedewasser-Reaktoren
Davon sind 3 Reaktoren in zumindest instabilem Zustand
Reaktor I (Inbetriebnahme: 1970, 439 MW Netto-Leistung):
Bereits am Freitag wurde bekannt, daß hier ein Notkühlfall vorliegt und sowohl die Hauptstromversorgung als auch sämtliche Notstromaggregate ausgefallen sind. Zeitweise konnte die Kühlung des Reaktorkerns nur behelfsmäßig und unzureichend mit Batteriebetrieb aufrechterhalten werden. Es liegen widersprüchliche Berichte vor, ob es hierbei zu einer Kernschmelze gekommen ist. Vermutlich ist der Reaktor endgültig zerstört.
Reaktor II (1973, 760 MW) Schon am Freitag wurde bekannt, daß auch dessen Kühlsystem beschädigt worden sei. Von einem Fallen des Kühlwasserstands oder einer Druckerhöhung wie in Reaktor I wurde jedoch nicht berichtet.
Reaktor III (1974, 760 MW)
vermutlich endgültig zerstört
Reaktoren IV - VI waren zum Zeitpunkt des Erdbebens wegen "Inspektionsarbeiten"
außer Betrieb
Die Betreiberfirma Tepco (Tokyo Electric Power Company) ist schon in der Vergangenheit durch zahlreiche Pannen aufgefallen. 2002 mußte der Chef seinen Hut nehmen, weil er unter Verdacht stand, Aufzeichnungen über die Sicherheit eines AKW gefälscht zu haben. In 29 Fällen sollen Reparaturnachweise verändert worden sein. Fünf Reaktoren mußten daraufhin für Sicherheits-Checks vom Netz genommen werden. Reaktor I des AKW Fukushima Daiichi ist bereits seit über 40 Jahren am Netz.
Mittlerweile deutet sich an, daß die Situation im benachbarten AKW Fukushima Daini noch gefährlicher sein könnte.
Das AKW Fukushima Daini umfaßt 4 Siedewasser-Reaktoren à 1.067 MW, Betriebsbeginn zwischen 1981 und 1986 – es wird auch als Fukushima 2 bezeichnet
Hier befinden sich 3 oder alle 4 Reaktoren in instabilem Zustand.
Auch über das weiter im Norden gelegene AKW Onagawa, das dem Epizentrum des Bebens am nächsten lag, gibt es derzeit vor allem widersprüchliche Nachrichten. Das AKW Onagawa umfaßt 3 Siedewasser-Reaktoren:
Reaktor I (1983, 498 MW)
Reaktor II (1994, 796 MW)
und Reaktor III (2001, 796 MW)
Am Freitag, 11.03., war ein Brand im Turbinen-Gebäude ausgebrochen. Dieser sei gelöscht worden, heißt es offiziell.
Am So., 13.03. wurde gemeldet, daß in der Umgebung des AKW Onagawa eine 400 Mal erhöhte Radioaktivität gemessen wurde. Die massiv erhöhten Strahlenwerte meldete die Nachrichtenagentur Kyodo unter Berufung auf die Betreibergesellschaft Tohoku. Ein Sprecher des Unternehmens sagte jedoch, die Reaktoren des AKW Onagawa seien stabil. Er nehme an, daß die erhöhte Radioaktivität vom Wind aus Fukushima herübergeweht wurde.
Der 'spiegel' schrieb am Samstag in seiner online-Ausgabe: "Widersprüchlicher könnten die Aussagen kaum sein."
Am Samstag erklärte der japanische Regierungssprecher Yukio Edano nach der Explosion in Fukushima Daiichi I, daß keine Radioaktivität austrete. Die Strahlenbelastung um das AKW sei bereits drastisch gefallen. Der zuvor gemessene Anstieg sei auf das "kontrollierte Ablassen" der Gase zwischen Reaktor und äußerer Reaktorhülle zurückzuführen. Zuvor hatten japanische Medien gemeldet, es habe sich "die erste atomare Kernschmelze auf japanischem Boden" ereignet. Dies ist jedoch zumindest irreführend, da es bei einem Unfall am 30. September 1999 im Brennelementewerk im japanischen Nuklearkomplex Tokaimura zu einer unkontrollierten Kettenreaktion gekommen war, wobei zwei Menschen zu Tode kamen.
Die Glaubwürdigkeit der offiziellen Mitteilungen tendiert bei der japanischen Bevölkerung mittlerweile gegen Null, nachdem sich nach der Explosion vom Samstag Video-Aufnahmen des AKW Fukoshima Daiichi, die als Live-Übertragung angekündigt waren, als um 20 Minuten zeitverzögert herausstellten. Ein TV-Sprecher mußte den ZuschauerInnen mitteilen, daß die auf den Aufnahmen gerade eben gezeigte Explosion des Reaktorgebäudes I bereits vor 20 Minuten stattgefunden hatte.
Der japanische Ministerpräsident Naoto Kan widersprach den Meldungen über eine Kernschmelze und versicherte kurz darauf bei einer Pressekonferenz, es habe keine Kernschmelze stattgefunden. Die japanische Atomsicherheitsbehörde NISA hatte bereits Stunden zuvor Cäsium und Jod in der Umgebung des AKW nachgewiesen und daraus geschlossen, daß der Reaktorkern zu diesem Zeitpunkt zumindest teilweise geschmolzen sei.
Weiterhin ist nicht auszuschließen, daß es aufgrund einer Kernschmelze und dabei verursachten Wasserstoff-Explosionen zu einem Bersten des Reaktordruckbehälters kommt. Dies wäre der häufig als Super-GAU bezeichnete Fall, da er über den von den AKW-Betreibern bei der Auslegung der Anlage gerade noch berücksichtigten "größten anzunehmenden Unfall", den GAU, hinausgeht.
Lediglich summarisch war zu erfahren, daß die Betreiberfirma Tepco bei insgesamt fünf Reaktoren, in denen der Drück zu hoch war, Ventile geöffnet und radioaktiven Wasserdampf abgelassen habe.
Samstag, 4:46 Uhr MEZ: Aus Reaktoren des AKW Fukushima Daini wird Druck abgelassen – Radioaktivität gelangt in die Umgebung.
Samstag, gegen 6:30 Uhr MEZ: Es kommt zu einer Explosion im AKW Fukushima Daiichi. Dach und Außenmauern des Reaktorblocks I wurden dabei zerstört.
Samstag, gegen 9:55 Uhr MEZ: Der TV-Sender NHK berichtet, die Strahlung um Reaktor I sei nach der Explosion um das 1.529-fache erhöht.
Samstag, gegen 11:30 Uhr MEZ: Laut TV-Sender NHK hat die japanische Atomsicherheitsbehörde NISA erklärt, es seien radioaktives Jod und Cäsium in der Nähe des AKW Fukushima Daiichi festgestellt worden.
Samstag, 11:44 Uhr MEZ: Trotz der schweren Explosion auf der Atomanlage hält die japanische Atomsicherheitsbehörde NISA der Agentur Kyodo zufolge schwere Schäden am Sicherheitsbehälter des Atomreaktors Fukushima Daiichi I für unwahrscheinlich. Nicht zu leugnen ist jedoch, daß das Reaktorgebäude weitgehend von der Explosion zerstört wurde.
Nach Angaben des japanischen TV-Senders NHK war die Strahlung an der Zufahrt zu Reaktor I des AKW Fukushima Daiichi um 15:29 Uhr Ortszeit um ein Vielfaches erhöht. Laut Nachrichtenagentur Kyodo wurde zu dieser Zeit die Evakuierungszone um das AKW von 10 auf 20 Kilometer ausgeweitet.
TV-Berichten zufolge war die Radioaktivität um das AKW nach der Explosion 20-fach erhöht und betrug rund ein Millisievert. Einsatzkräfte der Polizei fuhren zu dieser Zeit mit Sirenen durch die Region und warnten die Menschen per Lautsprecher. Laut BBC sind etliche AnwohnerInnen der zwischen 3 Kilometer und 10-Kilometer gelegenen Zone entgegen der zunächst verbreiteten Anweisung, das Haus nicht zu verlassen, in Richtung Süden aufgebrochen, um sich vor den Folgen ansteigender Radioaktivität in Sicherheit zu bringen.
Samstag, 12:02 Uhr MEZ: Laut Beamten der japanischen Atomsicherheitsbehörde NISA sei trotz der Explosion der Reaktordruckbehälter des Reaktors Fukushima Daiichi I nicht beschädigt. Zu dieser Einschätzung seien sie nach Prüfung der aktuellen Radioaktivitätswerte gekommen, berichtete die Nachrichtenagentur Kyodo.
Samstag, 12:49 Uhr MEZ: Die ARD-'Tagesschau' meldet, es hätten sich die schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Im AKW Fukushima Daiichi sei es zu einer Kernschmelze gekommen.
Samstag, 13:11 Uhr MEZ: Ministerpräsident Naoto Kan zeigt sich besorgt über die Lage im AKW Fukushima Daiichi – verliert aber kein Wort über eine Kernschmelze. Regierungssprecher Yukio Edano erklärt, die Reaktorhülle sei trotz der Explosion nicht beschädigt. Radioaktivität sei freigesetzt worden, deren Menge gehe aber zurück und liege "auf niedrigem Niveau".
Samstag, 14:13 Uhr MEZ: Es wird die Nachricht verbreitet, der Reaktordruckbehälter des Reaktors Fukushima Daiichi I solle nun mit Meerwasser gekühlt werden. Unklar bleibt dabei, ob Wasser in den Reaktordruckbehälter eingespeist werden kann oder ob der Reaktor lediglich von außen gekühlt werden soll. Im zweiten Fall handelt es sich um eine Maßnahme mit äußerst geringer Erfolgswahrscheinlichkeit. Um den Reaktor effektiv zu kühlen, müßten ein Zufluß von etlichen Kubikmeter Wasser pro Sekunde zur Verfügung stehen. Das Reaktorgebäude lediglich mit Wasser zu fluten würde keinesfalls ausreichen. Es würde sich sehr schnell stark erhitzen und müßte daher ständig erneuert werden.
Samstag, 17:45 Uhr MEZ: Die japanische Tageszeitung Asahi meldet, das Kühlwasser in Reaktor I des AKW Fukushima Daiichi sei auf einen Stand von 1,7 Meter gesunken. Da die Brennstäbe rund vier Meter hoch sind, lägen sie demzufolge zu rund 50 Prozent frei.
Samstag, 22:15 Uhr MEZ: Nach Angaben der japanischen Atomsicherheitsbehörde NISA sind im AKW Fukushima Daiichi neue Probleme aufgetreten: Im dritten der betroffenen Reaktoren sei das Notkühlsystem ausgefallen. Es sei nun dringend erforderlich, eine Behelfslösung für die Kühlung des Reaktors zu finden.
Samstag, 22:24 Uhr MEZ: Nach Angaben der Internationalen Atomenergie-Agentur IAEA wurden bislang 140.000 AnwohnerInnen aus der von einer radioaktiven Verseuchung bedrohten Region evakuiert. In einem Radius von 20 Kilometern um Fukushima Daiichi seien rund 110.000 Menschen evakuiert worden. Zugleich hieß es, die Evakuierung sei noch nicht abgeschlossen. Insgesamt müssen wohl allein 170.000 Menschen aus der 20-Kilometer-Zone um das AKW Fukushima Daiichi evakuiert werden.
Mittlerweile zeichnet sich ab, daß in fünf der elf von einer automatischen Schnellabschaltung betroffenen Reaktoren die Notkühlung versagt hat.
Am Sonntag muß die Betreiberfirma Tepco bestätigen, daß im Reaktor 3 des AKW Fukushima Daiichi alle technischen Haupt- und Reservesysteme, die dazu dienen, den nötigen Kühlwasserstand aufrecht zu erhalten, ausgefallen sind.
Sonntag, 6:23 Uhr MEZ: Nach offiziellen Angaben wurden mittlerweile rund 200.000 Menschen evakuiert. Allerdings sei die Evakuierung immer noch nicht abgeschlossen.
Sonntag, 6:49 Uhr MEZ: Die japanische Regierung bestätigt inzwischen, daß es in zwei Reaktoren des AKW Fukushima Daiichi zur Kernschmelze gekommen ist. Regierungssprecher Yukio Edana sagte, sowohl in Reaktor I als auch in Reaktor III bestehe die Möglichkeit, daß dieser Fall eingetreten sei. Auch bei Reaktor II sei das Kühlsystem ausgefallen, das Ausmaß der Schäden sei derzeit noch ungewiß.
Sonntag, 7:44 Uhr MEZ: Die japanische Regierung gibt die Information heraus, daß in einem der drei betroffenen Reaktoren des AKW Fukushima Daiichi die Brennstäbe eine Zeitlang nicht von Kühlwasser bedeckt gewesen seien. Dabei sei es wohl zu einer partiellen Kernschmelze gekommen. Gegen 9 Uhr Ortszeit sei Meerwasser “in den Reaktor“ gepumpt wurden. Wie schon im ersten Reaktor habe sich im Gebäude Wasserstoff angesammelt. Es seien Maßnahmen ergriffen worden, um eine Explosion zu verhindern. Ganz ausschließen könne man das aber nicht. Um den Druck im Rektor zu vermindern, sei Dampf abgelassen worden. Dabei sei Radioaktivität in die Umgebung der Anlage gelangt. Dies sei unvermeidlich gewesen, da nur so Schlimmeres habe verhindert werden können.
Sonntag, 12:19 Uhr MEZ: In Reaktor III spitzt sich die Lage zu. Das Risiko einer Wasserstoff-Explosion steigt, da sich an den freiliegenden Brennstäben Wasserstoff bildet. Wegen defekter Überdruck-Ventile wissen die TechnikerInnen derzeit nicht, wieviel Wasser die Brennstäbe noch umgibt. Zugleich steigt der Druck.
Sonntag, gegen 16:00 MEZ:
Die japanische Regierung ruft nun auch den atomaren Notstand für das AKW Onagawa aus. Grund sind die nicht zu leugnenden überhöhten radioaktiven Werte in der Umgebung der Anlage. Die Situation in Japan weitet sich nach dem schweren Erdbeben zu einer großflächige nuklearen Katastrophe aus. Allein die drei Reaktoren I bis III des AKW Fukushima Daiichi enthalten das radioaktive Inventar von rund 2000 Hiroshima-Bomben. Wieviel davon zurück gehalten werden kann, scheint inzwischen mehr von glücklichen Zufällen als von technischen Notmaßnahmen abzuhängen.
Derzeit sind zwei Katastrophen-Szenarien denkbar: Im Fall A kommt es durch unkontrollierte Erhitzung infolge der Nachzerfallswäre und die damit verbundene Druckzunahme zum Bersten des Reaktordruckbehälters. Im Gegensatz zur Tschernobyl-Katastrophe wird dabei jedoch das radioaktive Inventar nicht durch Feuer in große Höhe geschleudert. Es wird je nach Windverhältnissen in einem Radius von zehn bis zu einigen hundert Kilometern verteilt. Bei der Tschernobyl-Katastrophe kam es wegen der großräumigen Verteilung über ganz Europa zu einer starken Verdünnung der Radioaktivität pro Fläche. Beim Bersten des Reaktordruckbehälters vom Typ Siedewasserreaktor ist hingegen mit weiteaus höherer Radioaktivitätsbelastung auf kleinerer Fläche zu rechnen. Etliche Quadratkilometer können hierbei so stark verstrahlt werden, daß sie für Jahrzehnte unbewohnbar bleiben. Sollte es jedoch im Falle einer Kernschmelze gelingen, über etliche Tage hin immer wieder genügend Druck aus dem Reaktordruckbehälter abzulassen, droht ein weiteres Katastrophen-Szenario, Fall B: Die sich auf über 2000 Grad Celsius und mehr erhitzende Masse kann sich durch die Wirkung der Gravitation nach unten durch den Boden des Reaktordruckbehälters fressen. Wenn sie dabei im Erdreich an wasserführende Schichten gelangt, kann es wiederum zu Explosionen und infolge dessen zur Freisetzung von Radioaktivität in die Atmosphäre kommen – mit ähnlichen Auswirkungen wie in Fall A.
Ein wesentlicher Unterschied zur Tschernobyl-Katastrophe besteht darin, daß etwa in Reaktor I des des AKW Fukushima Daiichi ein Vielfaches der Radioaktivität des Tschernobyl-Reaktors vorhanden ist. Die Besiedlungsdichte ist in Japan zudem um ein Vielfaches höher als in der Umgebung von Tschernobyl.
Nach Angaben der japanischen Behörden sei die Situation in den drei Reaktoren im AKW Onagawa "unter Kontrolle“. Die genaue Ursache der hohen Werte werde derzeit gesucht. Der betroffene Meiler hatte unmittelbar nach dem Beben gebrannt, das Feuer im Turbinenhaus konnte gelöscht werden. Das Kraftwerk liegt in der nordöstlichen Provinz Miyagi.
Im AKW Fukushima Daiichi versuchen Fachleute verzweifelt, die weitere Erhitzung der Reaktorkerne zu stoppen. Sie pumpen seit Samstagabend ein Gemisch aus Meerwasser und Borsäure angeblich in den Reaktor. Wie dies ohne funktionierende Einspeisepumpen möglich sein soll, bleibt offen. Bor kann den Neutronenfluß zwischen den Brennstäben und damit die verhängnisvolle Kettenreaktion bremsen. In dem zwölf Kilometer entfernten Meiler Fukushima Daini droht ebenfalls der Super-GAU. Hier gibt es nach offiziellen Angaben Probleme mit dem Kühlsystem bei drei der vier Reaktoren.