Berlin (LiZ). Es war einmal eine Regierung in Deutschland, die mit dem Slogan "Mehr Demokratie wagen" Begeisterung auslöste. Viele der in den späten sechziger Jahren anpolitisierten Menschen nahmen den Slogan für bare Münze - vielleicht auch der erste SPD-Kanzler der Republik selbst. Benötigt wurde eine SPD-Regierung für Deutschland allerdings, um - ganz im Gegenteil - die geweckten Demokratiegelüste wieder "in geordnete Bahnen", ins Prokrustesbett des Parlamentarismus, zu lenken. Die Sorge der Herrschenden in West und Ost war groß, daß die "mündigen Staatsbürger"Innen - einmal auf den Geschmack gekommen - tatsächlich die von ihnen "ausgehende" Staatsmacht in die eigenen Hände nähmen. Und das würde nichts anderes bedeuten, als die Verfügung über die Produktionsmittel zu demokratisieren. Kaum je zuvor oder danach war dies so zum Greifen nahe wie in den späten 60er und frühen 70er Jahren. Das Schreckgespenst - nein: schon lange nicht mehr das des Kommunismus - der Beispiele in der CSSR und in Chile versetzte die Herrschenden in Ost und West in Panik...
Ein "Studentenführer" namens Rudi Dutschke rief - ganz unmarxistisch und in Unkenntnis des realen Machtzentrums - in Deutschland den "Marsch durch die Institutionen" aus. Und der damalige deutsche SPD-Bundeskanzler und Kommunistenhasser Willy Brandt mißverstand dies als reale Bedrohung. Heute vor 40 Jahren, am 28. Januar 1972, antwortete er in einer selten so unverstellt dargebotenen Einheitsfront mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer mit dem sogenannten Radikalen-Erlaß. Aus heutiger Sicht gesehen mutet dies alles als Farce an. Denn viele der "68er" sind heute überangepaßte SpießbürgerInnen, KriegsbefürworterInnen und Umweltschutz-HeuchlerInnen, deren einzige Reminiszenz an ihre jugendliche Revolte oftmals nur das Tragen eines schwarzen Hemdes oder der Jeans ist.
Aber auch ohne Marsch durch die Institutionen hat sich der weit überwiegende Teil derer, die damals demonstrierten, im SDS engagierten oder eine Zeit lang in Kommunen lebten, spätestens während der 16 Jahre des Kohl-Regimes bis zur Unkenntlichkeit angepaßt. Von Äußerlichkeiten oder einem nach Feierabend abrufbaren Jargon, der an die Frankfurter Schule erinnern soll, einmal abgesehen. Die Reminiszenzen an die Zeit ihrer Lebendigkeit erinnern oft fatal an die Kriegserinnerungen ihrer Vätergeneration. Von der 68er-Zeit ist nichts als Folklore geblieben.
Nein, nicht ganz. Die kleine Minderheit derer, die sich hierzulande in Verkennung des realen Charakters der Ostbockstaaten zum "Kommunismus" bekannten - oder auch nur dessen verdächtigt wurden, kam unter die Räder. Sie wurden unter einer "sozial-liberalen" Bundesregierung in den 1970er-Jahren mit einer Härte verfolgt, die in vielen anderen europäischen Ländern bis in konservative Kreise ein Schaudern verursachte. Nicht umsonst ging der Begriff "Berufsverbot" als geläufiges Fremdwort in den Wortschatz der meisten europäischen Sprachen ein. Einfache Briefträger oder Lokführer wurden verfolgt, LeherInnen mit Inquisitions-ähnlichen Verfahren gequält und auf die Straße gesetzt, ganze LehrerInnen-Generationen zur Ableistung formelhafter "fdGO"-Demutsfloskeln genötigt und durch jahrelange Bespitzelung einer scheibchenweisen Amputation des Rückgrades unterzogen.
Der von Willy Brandt und den Ministerpräsidenten der Bundesländer ausgebrütete "Radikalen-Erlaß" kam zunächst ganz harmlos formuliert daher: "Die Einstellung in den öffentlichen Dienst setzt nach den genannten Bestimmungen voraus, daß der Bewerber die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt. Bestehen hieran begründete Zweifel, so rechtfertigen diese in der Regel eine Ablehnung." Da sich nun die "Verfassungsfeinde" in der Regel nicht an der Form ihrer Nase erkennen ließen und die geringe Zahl beispielsweise an bekennenden DKP-Mitgliedern als Opfer offensichtlich zu unbefriedigend gewesen wäre, setzten die Herren ein gigantisches bürokratisches Räderwerk in Gang. Mit der sogenannten Regelanfrage wurden die "Verfassungsschutz"-Ämter 3,5 Millionen mal mit der Verfertigung von Dossiers beauftragt und zu Spitzenleistungen angetrieben. Auch bereits beamtete Lokführer, Postboten oder LehrerInnen konnten nicht vor der "Durchleuchtung" sicher sein. Ergebnis waren rund 10.000 Berufsverbots-Verfahren, 1.250 Ablehnungen von BewerberInnen und 265 Entlassungen. Die Betroffenen hatten damit keine oder kaum eine Möglichkeit mehr, den gelernten Beruf auszuüben.
Dabei suchte der "Verfassungsschutz" außerordentlich gründlich. Die Mitgliedschaft in einer kommunistischen (oder sich selbst so bezeichnenden) Organisation war keineswegs alleiniges Kriterium. Um in die Mühlen des Berufsverbots-Verfahrens zu kommen, genügte schon die Mitgliedschaft bei der VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes), der DFG/VK (Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen) oder der Vereinigung demokratischer Juristen.
Doch nicht nur bei Linken, auch bei Liberalen oder konservativen JuristInnen geriet der "Radikalen-Erlaß" in die Kritik. Als allzu willkürlich erwies sich die staatstragende Gesinnungsschnüffelei. Und das Kriterium, als Beamtin oder Beamter jederzeit "aktiv für die freiheitlich-demokratische Grundordnung" einzutreten, war beliebig dehnbar. In vielen Städten gründeten sich Bürgerinitiativ-ähnliche Anti-Berufsverbots-Komitees, die Betroffene betreuten und durch Pressearbeit und vielfältige Aktionen das Thema in die öffentliche Debatte hievten. So sahen sich bald auch Zeitschriften wie der 'spiegel' oder der 'stern' gezwungen, das Wort Berufsverbot nicht länger zu ignorieren.
Früh meldete sich Heinrich Böll in der öffentlichen Diskussion zu Wort und behandelte das Thema beispielsweise in seiner Erzählung 'Du fährst zu oft nach Heidelberg'. Auch Alfred Andersch mischte sich ein und löste 1976 heftige Reaktionen mit einem polemischen Gedicht zur Praxis der Berufsverbote aus. Erst Jahre später erkannte Willy Brandt den sogenannten Radikalen-Erlaß als "Irrtum". Im Verlauf der achziger Jahre stiegen immer mehr Bundesländer möglichst geräuschlos aus dem Verfahren aus und die "Regelanfrage" wurde nur noch in Baden-Württemberg und Bayern praktiziert. Doch Konsequenzen in Form einer Rehabilitierung oder Entschädigung der Opfer lassen immer noch weitgehend auf sich warten. Das Thema Berufsverbote geriet zudem mehr und mehr in Vergessenheit. Und auch zum dreißigsten Jahrestag des "Radikalen-Erlasses" im Jahr 2002 wurde es in der Öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommen. Dabei hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im "Fall Vogt gegen Deutschland", bei dem es um die Entlassung der Deutsch- und Französisch-Lehrerin Dorothea Vogt aus dem Staatsdienst ging, gegen "Deutschland" entschieden. In seinem Urteil kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum Ergebnis, daß mit der deutschen und in diesem Fall insbesondere niedersächsischen Berufsverbots-Praxis die Artikel 10 (Meinungsfreiheit) und 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) der Europäischen Menschenrechts-Konvention verletzt wurden.
Im Jahr 2004 - genau betrachtet: bereits am 15. Dezember 2003 wurde eine entsprechende "Einladung" zu einem "vertieften Einstellungsgespräch" versendet - versuchte die "schwarze" baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan die Berufsverbots-Praxis wieder aufleben zu lassen. Michael Csaszkóczy, Bewerber als Realschullehrer in Heidelberg, war als potentielles Opfer ausgesucht worden, weil er sich gegen Neonazis engagiert hatte. Ihm wurde mitgeteilt, daß "einschlägige Erkenntnisse" des Innenministeriums aus den Jahren 1992 bis 2002 Zweifel daran hätten aufkommen lassen, daß er bereit sei, jederzeit für die "freiheitliche demokratische Grundordnung" einzutreten. Insbesondere gehe es um die "Mitgliedschaft in Parteien oder Gruppierungen", die "verfassungsfeindliche Ziele" verfolgen würden.
Das im Januar 2004 gestartete und sich viele Jahre hinziehende Berufsverbots-Verfahren wirkte sich faktisch schon wie ein Berufsverbot aus, da die ursprünglich für den 1. Februar 2004 geplante Einstellung Csaszkóczy damit vereitelt wurde.
Michael Csaszkóczy war damals seit fünf Jahren in Heidelberg politisch aktiv. Er hatte sich insbesondere in der Antifa- und Antikriegsbewegung sowie für selbstverwaltete linke Zentren engagiert und trat dabei auch in der Öffentlichkeit in Erscheinung. Außerdem war er bundesweit für die Rote Hilfe e. V. aktiv, die als linke Solidaritätsorganisation ebenfalls im Fadenkreuz des "Verfassungsschutzes" stand. Ihm persönlich konnte jedoch in keinem einzigen Fall irgendeine verfassungswidrige Tätigkeit nachgewiesen werden.
Offenbar sollte das an Michael Csaszkóczy statuierte Exempel andere linke AktivistInnen vor die Wahl zwischen politischem Engagement und angestrebter Berufsausübung stellen. Zudem deutete der Angriff auf den Heidelberger Lehrer darauf hin, daß in Zeiten verstärkter sozialer Repression - im Jahr 2004 wurde von "Rot-Grün" mit den Hartz-Gesetzen der tiefste Einschnitt in den Sozialstaat seit dem Zweiten Weltkrieg eingeläutet - auch das Instrument des Berufsverbots wieder in Mode kommen kann.
Schavan äußerte sich erstmals im Juni 2004 auf einer Wahlkampf-Veranstaltung in Heidelberg öffentlich zum Fall Csaszkóczy und schien dabei am rechten Rand fischen zu wollen: Csaszkóczy werde von einer Mehrheit der Heidelberger Bürger abgelehnt, da er seit Jahren auf "unangenehme Art und Weise" aufgefallen sei. Außerdem warf sie Csaszkóczy vor, sich nicht von Militanz distanziert zu haben. Dabei hatte sich Schavan selbst zu keinem Zeitpunkt von der deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg oder am Afghanistan-Krieg distanziert.
Besonders ermutigend war das Engagement von vier Schülerinnen, die bis August 2004 560 Protest-Unterschriften gesammelt hatten und im Stuttgarter Kultusministerium abgaben. Solidarität erfuhr er nicht nur von Schülern und Schülerinnen, deren Eltern und einem in Heidelberg ins Leben gerufenen Solidaritätskomitee, sondern auch auf Bundesebene durch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und das Komitee für Grundrechte und Demokratie. Selbst aus dem Ausland erhielt Csaszkóczy Solidaritäts-Adressen, so beispielsweise vom CGT-Institut Alsace d'Histoire Sociale.
Im Mai 2005 griff die "rot-grüne" Bundesregierung indirekt in den Fall ein - jedoch nicht etwa, um dem Berufsverbots-Opfer beizustehen. Der als "68er" geltende Innenminister Otto Schily stellte am 17. Mai 2005 den jährlichen "Verfassungsschutz"-Bericht vor; im Abschnitt über die 'Rote Hilfe e.V.' wurde auf Seite 167 Michael Csaszkóczy erwähnt als "Mitglied des Bundesvorstands der RH, der als Realschullehrer wegen seines Engagements in einer linksextremistischen, Militanz befürwortenden Gruppierung auf absehbare Zeit nicht zum Schuldienst zugelassen wird." Damit griff die "rot-grüne" Bundesregierung in ein laufendes Verfahren ein, da die Klage Csaszkóczys zu dieser Zeit vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe anhängig war.
Prompt schloß sich im September 2005 die hessische Landesregierung der von Baden-Württemberg initiierten Wiederbelebung der Berufsverbote an und verweigert dem Heidelberger Realschullehrer aus politischen Gründen eine bereits zugesagte Stelle in Hessen. Der Rektor der betroffenen hessischen Schule hatte wenige Minuten vor der ersten Lehrerkonferenz einen Anruf vom Schulamt erhalten mit der Anweisung, Csaszkóczys Arbeitsvertrag nicht zu unterschreiben. Trotz Protesten von Seiten des Rektors und des zuständigen Personalrats beharrte das Schulamt auf seiner Position und berief sich auf eine kurzfristige Intervention des hessischen Innenministeriums.
Erst im März 2007 hob der Verwaltungsgerichtshof Mannheim (VGH), das oberste Verwaltungsgericht für das Land Baden-Württemberg, das Berufsverbot gegen den Heidelberger Lehramtsbewerber Michael Csaszkóczy auf. Eindeutig stellt der VGH fest: Csaszkóczy wurde zu Unrecht die Einstellung in den Schuldienst des Landes verweigert. Die entgegenstehenden Bescheide des Oberschulamts wurden deshalb aufgehoben und das beklagte Land verpflichtet, über den Antrag Csaszkóczys auf Einstellung in den Schuldienst unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Es dauerte nochmals mehr als zwei Jahre, bis das Landgericht Karlsruhe im April 2009 entschied, daß das Land Baden-Württemberg dem jahrelang mit Berufsverbot verfolgten Realschullehrer Michael Csaszkóczy eine Entschädigung in Höhe von knapp 33.000 Euro zahlen muß.
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
33.000 Euro Schadensersatz für Berufsverbot
Herbe Blamage für Ministerin Schavan (28.04.09)
Sieg gegen Berufsverbot
Nach vier Jahren Kampf bekommt Linker
eine Stelle als Lehrer (6.09.07)
Berufsverbote: Bundesregierung
ignoriert Menschenrechte (9.08.07)
Berufsverbot gegen Heidelberger Lehrer
Auch hessisches Gericht bestätigt Rechtswidrigkeit
(2.08.07)
Wie hält es die Bundesregierung
mit dem Berufsverbot und europäischem Recht?
(31.07.07)
Berufsverbot von Gericht aufgehoben
Michael Csaszkóczy darf Lehrer werden (14.03.07)
Datenschutzbeauftragter interveniert
zugunsten von baden-württembergischem
Berufsverbotsopfer (15.08.06)
Berufsverbot auf Hessen ausgeweitet
Schulleiter spricht sich für Berufsverbotsopfer aus
(21.02.06)
"Rot-Grün" für Berufsverbot?
Bundesregierung übernimmt Argumentation von
Kultusministerin Schavan (18.05.05)
Hamburger Solidarität für ba-wü Berufsverbots-Opfer
(25.11.04)
Interview mit dem Heidelberger Berufsverbots-Opfer
Michael Csaszkóczy (4.11.04)
Protest gegen das Berufsverbot für Michael Csaszkóczy
(3.08.04)
Berufsverbotsverfahren gegen Realschullehrer
in Heidelberg (11.02.04)
Berufsverbote
- Auch 32 Jahre nach dem Radikalenerlaß
keine Entschädigung für Opfer (28.01.04)