Was wußte Roland Kochs Kronprinz?
Wiesbaden (LiZ). Der langjährige Innenminister und "Kronprinz" Volker Bouffier übernahm vor wenigen Tagen das Amt des hessischen Ministerpräsidenten von seinem im Mai überraschend zurückgetretenen 52-jährigen Vorgänger Roland Koch. Bouffier gehörte seit der Studienzeit Roland Kochs zu dessen engstem Beraterkreis. Er ging mit ihm durch "dick und dünn" - auch und gerade als hessischer Innenminister. Welche Rolle spielte Bouffier bei der Entscheidung im September 2002, im Frankfurter Polizeipräsidium einem Verdächtigen Folter anzudrohen?
Die Androhung von und die Bereitschaft zur Folter - eine Bagatelle für die Frankfurter Staatsanwaltschaft und das entscheidende Gericht
Die Entführung des Frankfurter Bankierssohns Jakob von Metzler machte 2002 bundesweit Schlagzeilen. Im Zuge einer Fahndung nach Verdächtigen im Falle Jakob von Metzlers wurde am 30. September 2002 Magnus Gäfgen als Tatverdächtiger festgenommen und verhört. Tags darauf ordnete der Vize-Polizeipräsident Wolfgang Daschner die Androhung der Folter und gegebenenfalls deren Durchführung an. Es ging darum, den Tatverdächtigen "zum Sprechen bringen". Noch am selben Tag dokumentierte Daschner diesen Rechtsbruch in einer Aktennotiz und informierte den zuständigen Staatsanwalt Rainer Schilling.
Erst drei Monate später wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Frankfurter Vize-Polizeipräsidenten, der kurz vor der Pensionierung stand, eingeleitet. Der Vorwurf lautete "Aussageerpressung", was für JuristInnen gleichbedeutend mit Folter ist und wofür eine Freiheitsstrafen zwischen ein und zehn Jahren verhängt werden kann. Obwohl PolizistInnen bei weit weniger massiven Vorwürfen bis zum Ende eines Verfahrens suspendiert werden, blieb der Vize-Polizeipräsident im Amt. Im Februar 2004 ließ die Staatsanwaltschaft auch diesen Vorwurf fallen und klagte den beteiligten Kriminalhauptkommissar Ortwin Ennigkeit und Ex- Vize-Polizeipräsident Daschner wegen "Nötigung" beziehungsweise "Anstiftung zu einer Tat" vor dem Landgericht Frankfurt an. Das Urteil war an Milde nicht zu überbieten:
"Ehrenwerte Motive, mildes Urteil. Der ehemalige Frankfurter Vize-Polizeipräsident Wolfgang Daschner ist wegen der von ihm angeordneten Folterdrohung im Entführungsfall Metzler zu einer Geldstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Strafmildernd hätten sich die ehrenwerten Motive Daschners und des mitangeklagten Polizisten ausgewirkt, so die Richterin." ('spiegel', 20. Dezember 2004)
Ein klarer Verstoß gegen das Folterverbot
Am 31. Mai 2010 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßbourg die Folterandrohung gegen Magnus Gäfgen während der Vernehmung im Frankfurter Polizeipräsidium im Jahr 2002 als einen Verstoß gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Folterverbot): "Die RichterInnen warfen Deutschland eine mangelnde juristische Aufarbeitung des Falls vor; die Bestrafung der PolizeibeamtInnen sei zu milde gewesen, sie habe »nicht den notwendigen Abschreckungseffekt« gehabt, »um vergleichbaren Konventionsverletzungen vorzubeugen«" ('Frankfurter Rundschau', 27. August 2010)
Der Polizei- und Justiz-Skandal wurde in den deutschen Mainstream-Medien nur mit ein paar Zeilen erwähnt, während monatelang einer Diskussion über das Für und Wider der Folter in Deutschland ganze Seiten eingeräumt wurden. Offensichtlich sollte diese Medienpräsenz den BefürworterInnen von Folter dazu dienen, mit Hilfe eines emotionalisierten Präzedenzfalles den Bruch mit der Verfassung, der europäischen Menschenrechtskonvention und dem internationalen Folterverbot durchzusetzen.
"Um Leben und Tod" - Eine ganz tolle Geschichte für einen Krimi
Das muß sich wohl Polizeikommissar Ortwin Ennigkeit, der den mutmaßlichen Entführer Magnus Gäfgen "zum Reden bringen" sollte, gedacht haben. Er machte sich daran, ein Buch zu schreiben. Als zuständiger Ermittler hatte Ortwin Ennigkeit auf Weisung des damaligen Frankfurter Vize-Polizeipräsidenten Daschner dem Tatverdächtigen Gäfgen die "Zufügung von Schmerzen" angedroht. Sollte diese Drohungen wirkungslos bleiben, sollten sie in die Tat umgesetzt werden: "Sie brauchen jemandem nicht fürchterliche Schmerzen zufügen. Es genügt, wenn ein relativ geringer Schmerz für eine bestimmt Dauer aufrechterhalten wird." (Originalton Daschner laut 'Frankfurter Rundschau', 22. Februar 2003). "Um Leben und Tod" sollte das Buch des Polizeikommissars Ortwin Ennigkeit als Titel tragen. In der Verlagsankündigung heißt es reißerisch dazu: "Zum ersten Mal erzählt der Ermittler von der schwersten Entscheidung seines Lebens: Was wiegt schwerer? Die Menschenwürde des Tatverdächtigen oder die des entführten Kindes?" Geplant war die Herausgabe für dieses Jahr beim Münchner Heyne-Verlag.
Daraus wird wohl nichts - jedenfalls nicht in der bestehenden Fassung. Die offizielle Begründung des Verlages liest sich so: Verlag und Autor hätten "wegen der wieder offenen juristischen Fragen nach dem kürzlich ergangenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beschlossen, das geplante Buchprojekt vorerst nicht zu veröffentlichen." Die Begründung ist außerordentlich neblig: Die beiden angeklagten Polizeibeamte, Ortwin Ennigkeit und Wolfgang Daschner können nicht für dieselbe Tat zweimal verurteilt werden... Es sei denn, in diesem "Protokoll eines Verbrechens" finden sich Fakten, die einen neuen, schwerwiegenderen Straftatbestand belegen, als den der Nötigung beziehungsweise Anstiftung zu einer Tat. Daß es dazu möglicherweise dieses Buches bedarf, ist eigentlich Skandal genug. Es kommt aber noch dicker.
Gefährdet das Buch die Legende vom Einzeltäter Wolfgang Daschner? Unschwer zu erkennen ist, daß Ortwin Ennigkeit sein "Sachbuch" zur Rechtfertigung seiner Straftaten nutzen wollte. Und als pflichtbewußter Polizeibeamter hat er mit Sicherheit ebenfalls belegt, wie der Entscheidungsprozeß bis hin zur Folterandrohung vonstatten gegangen ist, wer im Laufe dieses Tages eingeweiht wurde, wer von dieser schweren Straftat Kenntnis hatte, in Kenntnis gesetzt werden mußte.
Bereits ohne dieses Buch ist die Legende von der "einsamen Entscheidung" des Herrn Daschner kaum aufrechtzuerhalten: Die Tatsache, daß Vize-Polizeipräsident Daschner kurz vor seiner Pensionierung stand, mag so zufällig gewesen sein, wie die sich im Urlaub befindlichen Vorgesetzten: Der Frankfurter Polizeipräsident Harald Weiss-Bollandt, der damalige hessische Innenminister Volker Bouffier und der hessische Ministerpräsident Roland Koch. So gesehen hatten alle für die fragliche Zeit ein "Alibi"...
Adrienne Lochte, die als Polizeireporterin der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung' (FAZ) den Fall Jakob von Metzler beobachtet hatte, schrieb ebenfalls ein Buch darüber: "Sie werden dich nicht finden" (Droemer Verlag 2004) Ohne es zu wollen, demontiert sie darin die Legende von der "einsamen Entscheidung" an besagtem 1.Oktober 2002: "Der Führungsstab kam zusammen. Anderthalb Stunden lang diskutierten die Kriminalisten darüber, wie Gäfgen anzupacken sei, mit welchen Methoden man ihn zum Sprechen bringen könnte, was rechtlich machbar sei. Der Polizeipsychologe soll davon abgeraten haben, dem Verdächtigen Schmerzen zuzufügen." (S. 176) Drei Seiten weiter faßt Lochte das Ergebnis dieser Beratungen und Rücksprachen zusammen: "Der Innenminister wollte in seinem Urlaub ständig informiert sein. Auch Ministerpräsident Roland Koch, der ebenfalls gerade Ferien machte, wollte wissen, wie es weiterging." (S.179)
Bis heute ist die FAZ-Reporterin Adrienne Lochte für diese schwerwiegenden Aussagen nicht belangt worden. Warum auch. Denn sie kann sich auf den sichersten Zeugen in dieser Angelegenheit stützen, auf den Ex-Vize-Polizeipräsident Daschner höchstpersönlich. Dieser bekam kurz vor dem Prozeß offebar kalte Füße und wollte auf keinen Fall als Bauernopfer herhalten. Er hatte wohl - angesichts der Phalanx an prominenten UnterstützerInnen - gar nicht mit einer Anklage gerechnet. So im Stich gelassen, überraschte Daschner vor Prozeßbeginn mit einer Stellungnahme, die die Legende von der einsamen Entscheidung endgültig demontierte. In einem Nachtrag an das Gericht teilte er mit, sein Vorgehen mit dem Innenministerium abgestimmt zu haben. "Aus der Wiesbadener Behörde habe er die Antwort erhalten: »Machen Sie das! Instrumente zeigen!«" (spiegel-online, 13. November 2004)
Sollte das Buch des Polizeikommissar Ortwin Ennigkeit die Rücksprache mit dem damaligen Innenminister bestätigen, würde dies nicht nur die fortgesetzte Untätigkeit der Frankfurter Staatsanwaltschaft erklären, sondern zugleich einen Ex-Innenminister treffen, der nun hessischer Ministerpräsident geworden ist: Volker Bouffier. Vieles deutet in diese Richtung, unter anderem die "Empfehlung" des aktuellen Frankfurter Polizeipräsidenten Achim Thiele an den schreibenden Kollegen, sein Buch nicht zu veröffentlichen. Daß diese "Empfehlung" einer knallharten Drohung gleichkommt, ist unschwer zu verheimlichen. Sein Polizeipräsidiums-Sprecher Jürgen Linker ließ mitteilen, daß er - nach Vorablektüre - der Überzeugung sei, daß es sich dabei um Verrat von Dienstgeheimnissen handelt. "Auf die Frage, ob das vom designierten Ministerpräsidenten Volker Bouffier geführte Innenministerium in den Prozeß involviert sei, sagte Linker: »Ob sich Thiel vom Ministerium hat beraten lassen, entzieht sich meiner Kenntnis.«" ('Frankfurter Rundschau', 27. August 2010)
Ob es sich bei der Gewaltandrohung gegenüber Magnus Gäfgen um "Nötigung" beziehungsweise "Anstiftung zu einer Straftat" handelte oder um Folter, ob der damalige Innenminister Volker Bouffier als oberster Dienstherr darüber informiert war und diese schweren Straftaten mit gedeckt hat, läßt sich vermutlich einfach klären: Das Buchmanuskript müßte beschlagnahmt und die entsprechenden Passagen mit den unbestrittenen Aussagen der FAZ-Reporterin Adrienne Lochte vergleichen werden. In jedem anderen Fall würde die Staatsanwaltschaft in diesem Sinne aktiv werden, um mögliche Beweise sicherzustellen. Nach dem Legalitätsprinzip müßte sie dies auch in diesem Fall tun, wenn es für alle gälte. Alles andere ist fortgesetzte Strafvereitelung im Amt - zugunsten des amtierenden hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier.
Wolf Wetzel
für die
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Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
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Dienstwagen-Studie der DUH:
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Steuerfahnder-Affaire Hessen
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Zu Lafonaines Pro-Folter-Kolumne vom 3. März (8.03.03)