Tunis (LiZ). Nach der Flucht des tunesischen Diktators Zine El Abidine Ben Ali ist die Lage in dem nordafrikanischen Land unüber- sichtlich. Das Militär, das die 23-jährige Diktatur des "Premier- ministers" stützte, kontrolliert die Knotenpunkte in der Hauptstadt Tunis. Die Demonstrationen, die vor vier Wochen begannen, haben Dutzende Todesopfer gefordert. Doch die Chancen der revoltierenden Menschen aus den Unterschichten und der arbeitslosen AkademikerInnen, eine Demokratie zu organisieren, sind nicht allzu groß.
Die deutsche Bundesregierung bekundet, die derzeitigen Interims-Machthaber wie Mohammed Ghannouchi und Foued Mbazaa, die dem korrupten Machtzirkel um Ben Ali angehörten, beim "Aufbau von Demokratie" unterstützen zu wollen. Dies muß dies auf die TunesierInnen wie eine Drohung wirken. Denn selbst die Ungebildetsten in Tunesien wissen, daß in Deutschland und der Europäischen Union Konzern-Interessen die Politik dominieren und daß auch Europa von demokratischen Strukturen noch weit entfernt ist.
Der Haß auf ausländische Konzerne ist in Tunesien weit verbreitet, denn diese hatten das Regime des Ben Ali allzu sichtbar unterstützt. So waren bei den Zerstörungen und Brandschatzungen vorrangig Firmen betroffen, die mit Familienmitgliedern der Ben-Ali-Clique in Verbindung stehen: Die Filiale einer Bank, die einem der Schwiegersohne Ben Alis gehört, wurde in Brand gesteckt und ebenso bevorzugt Autos der Marken Kia, Fiat und Porsche. Diese waren in Tunesien von Mitgliedern der Herrscher-Familie vertrieben worden.
Da es jedoch während der 23-jährigen Diktatur des "Premierministers" Ben Ali in Tunesien nicht gelungen ist, im Untergrund demokratische Strukturen aufzubauen, besteht im Moment ein Machtvakuum. Und dieses birgt die Gefahr, daß Tunesien eine Militär-Diktatur nach dem Beispiel des libyschen Oberst Muammar al Gaddafi oder eine von fundamental-islamischem Fanatismus geprägten Mullah-Diktatur nach iranischem Beispiel wird.
Da das Militär, das all die Jahre die Diktatur Ben Alis stützte, sämtliche wichtigen Knotenpunkte in der Hauptstadt Tunis kontrolliert, erscheint es am wahrscheinlichsten, daß die europäischen Regierungen die Bildung einer Militär-Diktatur mit mehr oder weniger aufwendiger parlamentarischer Fassade (siehe Ägypten) unterstützen werden. Für sie - und hier insbesondere die französische und die deutsche Regierung - geht es nicht nur darum, eine anti-imperialistsich ausgerichtete Mullah-Diktatur zu verhindern, sondern zudem, Tunesien als Grenzposten der Festung Europa zu erhalten. Fällt einer dieser Grenzposten entlang der Mittelmeer-Küste zwischen Marokko und Ägypten, kann es tatsächlich bald zu der seit Jahren immer wieder beschworenen "Flut" afrikanischer Hunger-Flüchtlinge nach Europa kommen.
Die Folgen der Weltwirtschaftskrise haben mittlerweile auch die im Vergleich zum übrigen Afrika relativ reichen nordafrikanischen Staaten Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen und Ägypten erreicht. Vor vier Wochen stand am Beginn der Demonstrationen in Tunesien der Tod des 26-jährigen Mohammed Bouazizi. Der Universitäts-Absolvent hatte sich lange Zeit als Straßenverkäufer von Obst und Gemüse durchgeschlagen. Er war jedoch wegen der ständigen Polizei-Schikane verzweifelt und hatte sich aus Protest selbst angezündet. Bouazizi starb am 4. Januar. Seine Selbstverbrennung war ein Fanal für die von immer mehr Arbeitslosigkeit und steigender Inflationsrate betroffenen TunesierInnen. Nachdem nun Diktator Ben Ali nach mehreren vergeblichen Landeversuchen - unter anderem in Paris - mit dem Flugzeug nach Saudi-Arabien geflohen ist, hoffen die Menschen, daß Tunesien das erste Land Nordafrikas wird, in dem "weder ein Militär noch ein König" das Amt des Staatschefs inne hat. Eine positive Perspektive fehlt jedoch ähnlich wie im Iran und es fehlt an Organisation, mit deren Hilfe sich die TunesierInnen selbst verwalten und eine Übernahme der Macht durch eine neue vom Ausland gesteuerte Elite verhindern könnten.
Aus der Sicht der europäischen Mächte besteht die "Gefahr", daß sich der Aufstand in Tunesien auch auf die Nachbarländer ausbreitet. Bereits jetzt sind ähnliche Unruhen in Algerien wegen Preiserhöhungen bei Grundlebensmitteln ausgebrochen. Das algerische Regime hat daraufhin den Preis von Zucker und Öl um 41 Prozent gesenkt. Auch Libyens Machthaber Gaddafi hat sofort ängstlich mit Preissenkungen bei Getreideprodukten, Reis, Speiseöl, Zucker und Babynahrung reagiert. Besonders in Ägypten ist die Situation nach der für alle offensichtlichen Wahlfälschung Anfang Dezember explosiv. Der dortige Diktator Hosni Mubarak konnte sich mittlerweile 29 Jahre lang Dank US-amerikanischer und europäischer Unterstützung an der Macht halten. Seine Macht ist auf "Armut, Analphabetentum und der Mißachtung der Menschenrechte" aufgebaut, sagte selbst der nicht gerade als Kritiker der USA bekannte frühere Chef der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) und ägyptische Staatsangehörige Mohammed el-Baradei.
Rund 25 Prozent der ägyptischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze und muß mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen. Die Analphabeten-Rate liegt bei etwa 40 Prozent. Das Geld, das seit Beginn einer neoliberalen Wirtschaftspolitik reichlich ins Land strömte, kam nicht den einfachen Leuten zugute. Das Mubarak-Regime scherte sich nicht darum, wie es außerhalb der Luxussiedlungen der Privilegierten aussieht. Ägypten gleicht heute einem Pulverfaß.
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Schein-Wahl in Ägypten
Offenbarungseid für Barack Obama (2.12.10)
Obama stärkt Diktatur
Waffen-Deal für 60 Milliarden US-Dollar eingefädelt
(14.09.10)
Manipulation bei der Präsidentschaftswahl im Iran?
(20.06.09)
Verfassungs-Referendum in Ägypten:
Mehrheit für Demokratie
Mubarak zu 82 Prozent für Mubarak (29.05.05)