Bis zu 120 Tote bei Angriff mit Marschflugkörpern
Washington/Sanaa (LiZ). US-Präsident Barack Obama hat überraschend einen Angriff mit Marschflugkörpern auf ein angebliches Ausbildungslager von Al-Qaida im Jemen befohlen. Dabei wurden bis zu 120 Menschen getötet, überwiegend oder ausschließlich ZivilistInnen. Obama nahm sich dabei offenbar den früheren US-Präsidenten William Clinton zum Vorbild, der am 20. August 1998 ohne Beweise eine Arzneimittel-Fabrik in der Nähe der sudanesischen Hauptstadt Khartoum als "Vergeltungs-Schlag" mit Marschflugkörper zerstören ließ, weil er dort eine Giftgas-Fabrik vermutete. Clinton wollte damit angeblich von Islamisten begangene Anschläge in Nairobi (Kenia) und Daressalam (Tansania) rächen. Von Seiten der Mainstream-Medien heißt es nun, Al-Qaida habe neben Afghanistan eine neue Terrorfront im Jemen eröffnet.
Bereits am 3. Dezember hatte Obama bei seiner Rede vor US-Militärs in West Point neben der Ankündung einer Truppenverstärkung um 30.000 SoldatInnen für Afghanistan einen wenig beachteten Hinweis auf eine territoriale Eskalation eingeflochten: "Wo immer Al-Qaida und seine Verbündeten versuchen, einen Brückenkopf zu errichten - ob in Somalia oder im Jemen - muß ihnen mit wachsendem Druck und starker Partnerschaft begegnet werden."
Im Jemen wurden auf Befehl des US-Präsidenten sowohl im Norden als auch im Süden zugleich Ziele mit Marschflugkörpern zerstört. Laut US-Verlautbarung hätten sich dort Anhänger von Bin Ladens Terrornetzwerk Al-Qaida aufgehalten. Die vermeintlichen Terror-Ausbildungslager in der südlichen Provinz Abian und nördlich der Hauptstadt Sanaa seien in Absprache mit der jemenitischen Regierung zerstört worden. Obama und der jemenitische Diktator Ali Abdallah Saleh gratulierten sich laut US-amerikanischer ABC-News gegenseitig per Telefon zu den erfolgreichen "Luftschlägen".
Weiter heißt es in lediglich von jemenitischen Quellen gestützten Darstellungen: Anti-Terror-Einheiten des jemenitischen Militärs hätten vor dem Einschlag der US-amerikanischen Marschflugkörper die Verstecke der Islamisten umstellt. Sie hätten eine Bodenoffensive gegen die fliehenden Islamisten gestartet und 17 Personen, darunter auch Ausländer, festgenommen. Angeblich haben "Propaganda-Videos", die im Internet kursierten, den Beweis geliefert, daß in den Wüstenregionen der Provinzen Jawf, Abian und Marib Terrorcamps existierten und eine multiethnische Al-Qaida-Truppe bestehend aus Jemeniten, Saudis und Somalis dort Ausbildungsstätten unterhielten.
Die Angaben über die Zahl der Opfer sind widersprüchlich. Wie die 'Welt' berichtet, behaupten Quellen aus dem Jemen, an drei betroffenen Orten seien insgesamt über 120 Menschen ums Leben gekommen. Nach offizieller Darstellung der jemenitischen Regierung seien etwa 300 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Sanaa im Dorf Majaala, in der Provinz Abian, 34 Al-Qaida Anhänger bei der Zerstörung ihres Trainingscamps getötet worden. In Abhar, 35 Kilometer nördlich von Sanaa, seien vier weitere "Terroristen" ums Leben gekommen.
Die 'Welt' berichtet, daß es sich nach Aussagen von Provinzpolitikern und AnwohnerInnen bei vielen Opfern jedoch um einfache DorfbewohnerInnen gehandelt habe. So sollen alleine in dem Dorf Majaala, das konzentriert angegriffen wurde, Dutzende ZivilistInnen ums Leben gekommen sein, unter ihnen bis zu 23 Kinder. Aufnahmen des arabischen Fernsehers Al-Jazeera zeigten Bilder zahlreicher Toter und die Bestattung der Leichname. Auch hier wurde von zivilen Opfern berichtet. Nach Aussagen eines örtlichen Stammesführers seien 49 ZivilistInnen getötet worden.
Nach Aussagen der lokalen Bevölkerung seien im Gebiet Mahsad bei dem US-Angriff mehr als 60 Menschen getötet worden. Auf ihrem Gebiet habe sich niemand von der Al-Qaida befunden. Der 'focus' berichtet von der Aussage eines Behördenvertreter der Region, unter den 49 Opfern des US-Angriffs hätten sich 23 Kinder und 17 Frauen befunden. Ein Stammesführer habe die Angaben bestätigt.
Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF und das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR gaben Warnungen heraus und berichteten über die grauenvollen Lebensbedingungen von Hunderttausenden im Jemen, die bei gemeinsamen Angriffen von Saudis und jemenitischem Regime im Norden vertrieben wurden. Das UNCHR schätzt, daß bis zu 175.000 Menschen zur Flucht gezwungen wurden und sich in überfüllten Lagern befinden, wo es an Nahrung und Wasser mangelt. Auf Grund der Zustände in den Lagern sterben Kinder.
Die Lage des Jemen ist ebenso wie die Somalias und Afghanistans von geo-strategischer Bedeutung. Wie Associated Press in einem Bericht über den US-Angriff anmerkte, "liegt der Jemen an einem für die Schifffahrt strategisch bedeutenden Punkt am Roten Meer und am Golf von Aden, von wo aus es einen Zugang zum Suezkanal gibt." Es handelt sich um die meistbefahrene Tanker-Route der Welt.
Nach der Behauptung des US-Präsidenten bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises, mit dem Krieg in Afghanistan solle Al-Qaida bekämpft werden, muß einmal mehr an historische Tatsachen erinnert werden, die noch keineswegs lange zurückliegen. Dokumentiert ist, daß im Juli 2001 in Berlin Verhandlungen zwischen der US-Regierung und den Taliban um den Bau einer Pipeline vom Kaspischen Meer nach Karachi stattfanden, an deren Ende jener bemerkenswerte Satz des amerikanischen Unterhändlers stand: "If you comply, we shall cover you with a carpet of gold; if you don't, we shall cover you with a carpet of bombs." (Wenn Sie zustimmen, werden wir sie mit einem Teppich aus Gold zudecken, falls nicht, mit einem Bombenteppich.) Im Oktober 2001 begann der Aghanistan-Krieg.
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