1.06.2010

Nachwuchs ohne Zukunfts-Chance

Immer mehr Kinder kommen unter die Räder

Kind unterm Rad Berlin (LiZ). Zwei neue Studien beschäftigen sich mit der Lebenssituation von Kindern in Deutschland. Immer mehr Kinder sind vom Sozialabbau betroffen. Immer mehr Kinder sehen für sich keine Zukunfts-Chance.

Nach der heute in Berlin unter dem Titel "Kinder in Deutschland 2010" vorgestellten Studie der Kinderhilfs- Organisation 'World Vision Deutschland' leben rund 20 Prozent der Sechs- bis Elfjährigen in eher prekären Verhältnissen und sehen die eigene Zukunft pessimistisch. "Die Kluft zwischen jenen Kindern und den übrigen, die in stabilen und geordneten Verhältnissen aufwachsen, hat sich seit der letzten Studie aus dem Jahr 2007 noch vergrößert," sagt Klaus Klaus Hurrelmann, Sozialwissenschaftler und Co-Autor der 'World-Vision'-Studie. Den benachteiligten Kindern fehle der Glaube daran, sie könnten durch eigenes Handeln etwas verändern. Viele darunter seien noch im Grundschulalter, hätten sich aber bereits aufgegeben.

Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann und die Kindheitsforscherin Sabine Andresen haben gemeinsam mit TNS Infratest Sozialforschung 2.500 Kinder von sechs bis elf Jahren in Deutschland über ihre Lebenssituation befragt. Zum ersten Mal wurden bei der Studie auch sechs- und siebenjährige Kinder mit einbezogen. Die Studie gewährt somit einen repräsentativen Einblick in die Lebenswirklichkeit auch sehr junger Kinder. Sie zielt darauf ab, den sechs- bis elfjährigen Kindern eine Stimme zu geben, ihnen zuzuhören, ihre Sichtweisen kennen zu lernen und daraus Handlungsempfehlungen für Politik und Gesellschaft abzuleiten.

Von den Kindern, die aus einem wohlhabenden Elternhaus kommen, planen bereits im frühen Alter 80 Prozent, später ein Gymnasium zu besuchen und Abitur zu machen. Bei den Mädchen und Jungen, die aus sozial benachteiligten Familien kommen, ist dieses Verhältnis umgekehrt. Dies zeigt, daß bereits im frühen Kindesalter die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Es ist wichtig, daß Entwicklungsmöglichkeiten nicht aufgrund der Herkunft verwehrt bleiben. Hurrelmann bewertet die gegenwärtige Situation als "erschreckend". Er mußte feststellen: "Die Kinder aus dem benachteiligten unteren Fünftel sehen ihre Zukunft negativ und trauen sich keine erfolgreiche Schullaufbahn zu. Es fehlt ihnen an Rückhalt, an Anregungen und an gezielter Förderung."

Doch der Pessimismus der Unterschichten-Kinder in Deutschland erweist sich leider als realistisch: In Deutschland erfolgt - schlimmer noch als in den meisten anderen europäischen Ländern - eine scharfe soziale Auslese. Durchschnittlich 40 Prozent eines Jahrgangs - so die politische Vorgabe - sollen für die höchste Sprosse deutscher Ausbildung - das Universitätsstudium - ausgesiebt werden. Doch von 100 Kindern mit Akademiker-Vater rutschen 83 durchs Sieb, während nur 23 Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien zu den Auserwählten zählen. Noch deutlicher wird die soziale Auslese, wenn Beamten-Kinder mit Arbeiter-Kindern verglichen werden: Ihre Chance auf ein Universitätsstudium ist fünfeinhalb mal so hoch wie die von Arbeiterkindern.

Die Studie belegt, daß bei Kindern auch die Furcht vor dem Arbeitsplatz-Verlust ihrer Eltern deutlich schichtspezifisch ist. So fürchten sich zwischen 27 und 55 Prozent der Kinder zwischen sechs und elf Jahren vor einem Jobverlust der Eltern - je besser die Eltern gestellt sind, desto geringer die Angst. Kinder aus ärmlichen Verhältnissen stehen unter erheblichen Druck im Alltag aus Angst vor Arbeitslosigkeit der Eltern.

Auch der Familienreport 2010 der Bundesfamilienministerin Kristina Schröder stellt einen Zusammenhang zwischen der Familiensituation und den Chancen der Kinder her. Dieser Studie zufolge ist das Armutsrisiko bei Familien besonders hoch, in denen die Kinder bei nur einem Elternteil aufwachsen. Mittlerweile wachsen rund 17 Prozent der Kinder in Deutschland bei nur einem Elternteil auf. 1998 lag der Anteil der Familien, in der ein Elternteil allein für die Erziehung hauptverantwortlich ist, noch bei 14 Prozent. 90 Prozent der Alleinerziehenden sind Frauen. Besonders hoch ist der Anteil der Alleinerziehenden in Ostdeutschland.

Familienministerin Schröder sieht den Report als einen Beleg dafür, daß staatliche Fördermaßnahmen "unverzichtbar" sind. Was getan werden müßte, um den seit Jahren unverändert negativen Trend umzukehren, ist von ihr jedoch nicht zu erfahren. Nachdem die öffentlichen Kassen wegen Milliarden-Hilfen an Banken und Autoindustrie geplündert sind, erklärt die Ministerin, es seien nunmehr weitere Kürzungen im Sozialbereich unumgänglich.

"Große Sorgen" bereitet dagegen den den ForscherInnen insbesondere die Situation der Alleinerziehenden "Sie werden in unserer Gesellschaft nach wie vor massiv benachteiligt." Auch hätten Kinder aus sozial benachteiligten Familien überdurchschnittlich oft einen "Migrationshintergrund". Die Kinderstudie belegt außerdem, daß sich das deutsche Familienbild weiter wandelt. Nur noch vier von zehn Kindern leben in einem "klassischen Ein-Verdiener-Haushalt". Öffentliche Mittel müßten weitaus stärker als bisher dorthin fließen, "wo alle Kinder sind", nämlich in die Bildung. Zentral sei hierbei in die Qualifizierung der PädagogInnen, die materielle Ausstattung von Schulen und Horten und die Ausweitung vorschulischer Betreuungsangebote.

Ob Familien arm oder reich sind, zeigt sich auch in der Mediennutzung der Kinder und Jugendlichen. Als auffällig bewertete die 'World-Vision'-Studie hierbei die Veränderungen im Vergleich zu 2007. Der Gebrauch von Medien hat laut Studie viel mit der sozialen Herkunft zu tun. Hatten damals 36 Prozent der Acht- bis Elfjährigen ein eigenes Handy, sind dies mittlerweile 47 Prozent. Das Fernsehen stehe zwar immer noch auf Platz eins der meistgenutzten Medien, aber "Internet und Handy holen kräftig auf", sagte Hurrelmann. Dabei haben vor allem Kinder der Ober- beziehungsweise oberen Mittelschicht Zugang zum Internet - nämlich 63 Prozent. In den unteren Schichten sind es nur 41 Prozent. Auffällig sei jedoch - so Hurrelmann - , daß Kinder aus der Mittel- und Oberschicht vermehrt Computer nutzen, der Nachwuchs in bildungsfernen Elternhäusern aber vor allem Spielkonsolen und Gameboys. Auch das Fernsehen sei von Bedeutung. 28 Prozent der Mädchen und Jungen aus der untersten Herkunftsschicht berichten, regelmäßig mehr als zwei Stunden am Tag fernzusehen. Bei Kindern aus den oberen Schichten treffe dies nur bei rund sechs Prozent zu. Kinder aus gut situierten Familien nutzen bevorzugt Kassettenrekorder, CD-Player oder das Radio neben Computer und Internet. "Das hat etwas damit zu tun, ob man sich nur unterhalten lassen will oder aktiv etwas aus dem Medium rausziehen will", erklärte der Jugendforscher.

Bei der Freizeitgestaltung kristallisieren sich in der Studie drei Gruppen heraus: Die "normalen Freizeitaktiven" (52 Prozent), die alles Mögliche machen, die "Vielseitigen" (24 Prozent), die sich zusätzlich zahlreichen musisch-kulturellen Aktivitäten widmen, und die "Medienorientierten" (24 Prozent). Letztere sind vor allem Jungen und überwiegend aus unteren sozialen Schichten. In der Mehrheit der Familien gelten Regeln für die Mediennutzung. Immerhin erklärten 24 Prozent der Kinder, daß sie tagsüber fernsehen, Computer oder Spielkonsole spielen dürften, wann immer sie wollten. Darunter war der Anteil der "Medienorientierten" höher als der der "normalen Freizeitaktiven" oder der "Vielseitigen". Zugleich gaben die Kinder, für die es keine klaren Regeln beim Medienkonsum gelten, häufiger als andere an, es gebe immer wieder Streit mit den Eltern über die Dauer der Mediennutzung. Auch Kinder, die ihren Eltern ein Zuwendungsdefizit bescheinigen, hatten häufiger Streit zu Hause wegen des Computerspielens oder Fernsehens. Daß gerade Familien aus finanzschwachen Schichten viel Geld für Spielkonsolen, Gameboys und ähnliches für ihre Kinder ausgäben, zeigt nach Ansicht Hurrelmanns die Hilflosigkeit vieler Eltern im Umgang mit der Sehnsucht ihrer Kinder nach Unterhaltungsmedien.

Musische Aktivitäten und Lesen werden laut der Studie zu einem Klassenphänomen: 45 Prozent der Mädchen machen Musik, malen oder tanzen, gegenüber 21 Prozent der Jungen. Auch beim Lesen hinken die Jungen hinterher: 42 Prozent der Jungen lesen selten oder nie in ihrer Freizeit, bei Mädchen sind es 25 Prozent. Kinder aus gehobenen Schichten lesen oder widmen sich musischen Aktivitäten öfter als andere Kinder, heißt es in dem Bericht.

Positiv bewertete Hurrelmann, daß inzwischen mehr Kinder Ganztagsschulen besuchen und damit ganz offensichtlich auch zufrieden sind. Hier fordert er weiteres politisches Engagement: Die Gesellschaft könne es sich nicht leisten, Kinder einfach aufzugeben. Christoph Waffenschmidt, Vorstandsvorsitzender von 'World Vision Deutschland' sagte: " Die Kluft zwischen arm und reich wird größer. Wir dürfen nicht zulassen, daß Kinder aufgrund ihrer sozialen Herkunft beruflich und sozial ins Abseits geraten.

 

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Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

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      184 Milliarden Euro verpuffen weitgehend wirkungslos
      (1.09.09)

      Kinderarmut in Deutschland
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      Stärkere Umweltbelastung von Kindern der Unterschicht
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      Krebsstation Deutschland (31.03.2008)

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      und Kinder-T-Shirts (30.07.2007)

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      Soziale Auslese an der Uni-Pforte
      Unterschichten-Kinder mit geringen Bildungs-Chancen
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      Sozialabbau und der Fall Kevin (22.01.2007)

      PISA offenbart vertiefte Kluft
      zwischen Arm und Reich (31.10.2005)

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      in Kinderfeindlichkeit
      Stärkster Anstieg bei Kinderarmut (2.03.2005)