Ähnlich wie die Erwachsenen in der Schlüsselszene des Märchens "Des Kaisers neue Kleider" unfähig sind, die Realität zu erkennen, ist eine Mehrheit der in "christlich-abendländischer" Kultur erzogenen Menschen nicht in der Lage, das Groteske an der Figur des Sankt Martin wahrzunehmen. Es ist wie jener Jeschuah aus Galiläa vor rund 2000 Jahren sagte: "Sie haben wohl Augen, daß sie sehen könnten, und wollen nicht sehen, Ohren, daß sie hören könnten, und wollen nicht hören, denn ihr Herz ist verstockt."
Da reitet ein Soldat namens Martin daher, steigt nicht einmal vom hohen Roß herunter als er einen frierenden Bettler erblickt und teilt seinen Mantel mit dem Schwert. Den halben Mantel überläßt er dem Frierenden und diesen seinem Schicksal. Und er reitet - so dürfen wir annehmen - mit beruhigtem Gewissen seines Wegs. "Dann ist er fortgeritten, im Schnee mit Windeseil", heißt es in einem Martins-Lied. Einen halben Mantel läßt er zurück - das verstehen auch heute noch viele, die sich "christlich" nennen, unter Teilen. Wir müssen auch gar nicht wissen, auf welche Zeit das Leben dieses Scheinheiligen datiert ist - denn: In den ersten drei Jahrhunderten war für ChristenInnen noch selbstverständlich, daß ihr Glaube nicht vereinbar ist mit dem sogenannten Beruf des Soldaten.
Mit der Figur des heiligen Martin wird hierzulande den Menschen schon von Kindesbeinen an die pseudo-christliche Heuchelei eingeimpft. Dabei ist die immer wieder geschilderte Szene von einer Komik, die selbst jene bekannte Szene von des Kaisers neuen Kleidern übertrifft. Die Parallele ist ebenso frappierend: Im einen Fall bewirkt eine Art kollektive Suggestion, daß die Erwachsenen nicht wahrnehmen, daß der Kaiser in Wahrheit nackt vor ihnen steht. Im anderen Fall haben die Menschen gelernt, das Groteske an dieser Sankt-Martin-Szene einfach zu übersehen.
Wir haben auf diese Parallele bereits in einem Kommentar am 12.11.07 hingewiesen. Anlaß war damals die Auseinandersetzung um die "Tafeln", mit denen diese Gesellschaft die von ihr selbst durch die Hartz-Gesetze angerichtete Not ein wenig lindert. Die eigentliche Funktion der "Tafeln" ist dabei nicht die karitative, denn diese ist nur ein unvermeidbarer Nebeneffekt. Bezwecken sollen die "Tafeln" zweierlei: Sie dienen zum einen dazu, das eigene Gewissen zum Schweigen zu bringen und zum anderen, die Betroffenen zum Stillhalten, zum Akzeptieren ihrer Rolle zu bewegen.
Dieselbe Heuchelei tritt auf globaler Ebene in Gestalt der "Entwicklungshilfe" in Erscheinung. Während die Verantwortlichen der reichen Staaten die Länder der "Dritten Welt" ausplündern, gewähren sie einen winzigen Teil dieses Raubgutes - bevorzugt als "Spende", deren Höhe und EmpfängerInnen sie selbst bestimmen - als milde Gabe. Auch hier ist der Zweck derselbe: Zum einen soll vom Raub abgelenkt werden, zum anderen sollen die Opfer in ihrer abhängigen Rolle gehalten werden.
Im Jahr 2003 belief sich die öffentliche "Entwicklungshilfe" der Industrieländer des Nordens für die 122 Länder der "Dritten Welt" auf 54 Milliarden US-Dollar. Im selben Jahr haben diese Länder der "Dritten Welt" an den Norden 436 Milliarden US-Dollar als Schuldendienst überwiesen. Die Ausplünderung dieser Länder läßt sich allerdings nicht allein anhand der offiziellen Handelsbilanzen beziffern. Hierzu ein Beispiel: Das westafrikanische Land Niger gehört zu den ärmsten der Welt, obwohl es - unglücklicher Weise - über reiche Uran-Vorkommen verfügt. Seine Handelsbilanz ist negativ: Aus dem gesamten Export (darunter zu 54 Prozent aus Erz- und Uran-Export) erlöst es jährlich umgerechnet nur rund 502 Millionen US-Dollar. Für den Import (darunter zu 26 Prozent Nahrungsmittel) fließen aus dem Niger dagegen umgerechnet rund 871 Millionen US-Dollar ab. Die Differenz zwischen diesen beiden Zahlen bildet jedoch das Mißverhältnis stark verzerrt ab. Denn ein durchschnittlicher Atom-Reaktor - in Frankreich oder in Deutschland - produziert mit dem gestohlenen Uran täglich einen Profit von rund einer Million Euro.
Am 31. Oktober wurde bekannt, daß 93 Flüchtlinge aus dem Niger in der Sahara verdursteten. Sie wurden ermordet (siehe unseren Artikel v. 31.10.13).
Adriana Ascoli
für die
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Festung Europa
Flüchtlinge aus Niger in Sahara verdurstet (31.10.13)
Sozialabbau
und Suppenküchen-Staat (12.11.07)