Dresden (LiZ). In den Kommunen werden "InterviewerInnen" für die Volkszählung "Zensus 2011" gesucht, die im Mai starten soll. Während Teile der Linken noch keinen klaren Standpunkt gefunden haben und die Beteiligung am Volkszählungs- Boykott gegenüber dem Jahr 1987 vermutlich schwächer ausfallen wird, haben Neo-Nazis längst ihre Chance erkannt: Die sächsische NPD ruft ihre Mitglieder dazu auf, sich als Freiwillige für die Volkszählung zu melden.
Offenbar steht bei den Neo-Nazis jedoch kein Sinn für die Notwendigkeit staatstragender Pflichterfüllung hinter dem Eifer. Sie versprechen sich davon, mehr über die "politische Stimmungen im Lande" zu erfahren und Linke ausforschen zu können. Im Aufruf heißt es ganz offen: "Der besondere Reiz solcher Haushaltsbefragungen liegt darin, daß man auch Eindrücke von den persönlichen Lebensverhältnissen des einen oder anderen 'Antifaschisten' bekommen kann."
Bundesweit werden schätzungsweise 80.000 "Erhebungsbeauftragte" für die Volkszählung benötigt. Städte und Landkreise suchen nun händeringend Ehrenamtliche, die im Mai in ausgewählten Haushalten Fragen zu den Lebensumständen der Bürger stellen und angeblich beim Ausfüllen behilflich sein sollen.
Das Statistische Landesamt in Sachsen ist wegen dem Aufruf der NPD "alarmiert". Es gibt aber offensichtlich keine rechtliche Handhabe, die für den Staat tätigen "Erhebungsbeauftragten" zuvor mit einem Gesinnungstest auf ihre "FdgO"-Verträglichkeit zu überprüfen, wie es zur Zeit der Berufsverbote mit linken LehramtsanwärterInnen oder PostbotInnen durchexerziert worden war. Irene Schneider-Böttcher, Präsidentin des Statistischen Landesamts in des sächsischen Landeshauptstadt Dresden meinte beschwichtigend: "Wir werden die Leiter der rund 40 Erhebungsstellen in Sachsen nun noch einmal explizit darauf hinweisen, die Interviewer zu belehren."
Die "InterviewerInnen" werden zwar per Unterschrift auf eine Geheimhaltung der Daten verpflichten und dürften mit den Interviews keine anderen Zwecke verfolgen - dies gelte auch "für politische, weltanschauliche und religiöse Zwecke", so Schneider-Böttcher. Bei Zuwiderhandlung drohe eine Geld- oder Freiheitsstrafe. Doch dies wird den Neo-Nazis allenfalls ein Grinsen entlocken.
Für die Bewegung für den Volkszählungs-Boykott ist der NPD-Aufruf nur ein weiteres Argument für ihre Ablehnung der "staatlichen Schnüffelei". Eines der gewichtigsten Argumente der Volkszählungs-GegnerInnen ist der mangelhafte Schutz der Daten, die bis zu vier Jahre lang gespeichert werden sollen. Zudem ist über die Nummerierung jederzeit möglich, die Daten zu entanonymisieren, sie also wieder den einzelnen Befragten zuzuordnen. Es wird so mit dem "Zensus 2011" eine riesige, demokratischer Kontrolle entzogene zentrale Datensammlung angelegt. Wie bei jeder zentralen Datensammlung besteht ein enormes Mißbrauchs-Potential.
Beim "Zensus 2011" sollen - anders als 1987 - parallel mit einer Zusammenführung und Auswertung bereits vorhandener Verwaltungsdaten rund zehn Prozent der Deutschen stichprobenartig interviewt werden. Der Effekt ist Dank statistisch ausgefeilter Methoden für die Bürokratie ebenso nutzbringend wie eine herkömmliche Volkszählung. Zudem verringert diese Methode den finanziellen Aufwand und die Chancen eines Volkszählungs-Boykotts.
Daß die Volkszählung für die unteren Zweidrittel der Bevölkerung ebenfalls einen Nutzen hätte, darf angesichts dreier statistisch gesicherter Daten bezweifelt werden. Denn auch ohne Volkszählung steht fest, daß eine Mehrheit der Deutschen Atomenergie ablehnt, keine genmanipulierten Nahrungsmittel wünscht und sich für den Abbruch des Kriegseinsatzes in Afghanistan ausspricht. Dennoch ist kaum zu erwarten, daß "Schwarz-Rot-Grün-Gelb" nach der Volkszählung eine andere Politik verfolgt als zuvor.
Anmerkungen
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