27.12.2010

Die Hintergründe der Gerichts-Farce
gegen Chodorkowski

Michail Chodorkowski
Moskau (LiZ). Um das Ergebnis einer Gerichts-Farce bewerten zu können, genügt nicht allein die Frage nach der Fairness des Prozesses. Auch wer in einem gezinkten Prozeß verurteilt wird, kann doch ein Verbrecher sein. Das - kaum anders zu erwartende - Urteil gegen Michail Chodorkowski, den vor nur wenigen Jahren reichsten Mann Rußlands, bietet einen hervorragenden Anlaß, ein im Westen wenig analysiertes Kapitel der jüngsten russischen Geschichte zu betrachten.

Nach dem Zusammenbruch der angeblich sozialistischen Sowjetunion kamen unter den Konkursverwaltern Michail Gorbatschow (Präsident der Sowjetunion von März 1990 bis Dezember 1991) und Boris Jelzin (erster Präsident Rußlands von 1991 bis 1999) nicht etwa demokratische Kräfte ans Ruder. Ebenso wie Gorbatschow und Jelzin entstammte die neue ökonomische und politische Elite der opportunistischen, weder an Ideologien noch Idealen interessierten Funktionärsschicht, die die Sowjetunion beherrscht hatte. Gorbatschow war ein langjähriger Protegé seines Vorgängers in Amt des Generalsekretärs der KPdSU und Chefs des Geheimdienstes KGB, Juri Andropow. Jelzin war seit 1981 Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU und seit 1985 oberster Partei-Chef in Moskau.

In welchem Maß Jelzin zu einer Marionette der neuen Wirtschafts-Oligarchen geworden war, zeigte sich bereits bei den Wahlen 1996. Bei den Umfragen wenige Monate vor der Wahl gaben lediglich 4 Prozent der Befragten an, für Jelzin stimmen zu wollen. Erst massive Propaganda der Oligarchen verhalf Jelzin zu einem Sieg. Die Oligarchen konnten auf diese Weise mit Erfolg ihr zumeist illegal und mit Hilfe von Bestechung erworbenes privates Eigentum vor dem Zugriff des Staates sichern. Die rücksichtslose Bereicherung Weniger verursachte eine tiefe Wirtschaftskrise, die darin gipfelte, daß Rußland am 17. August 1998 zahlungsunfähig - also de facto pleite - war.

Die 'Frankfurter Rundschau' schrieb damals als einen seltenen Lichtblick journalistischer Analyse: "Das Zentrum hat eine mafiose Art der Privatisierung durchgezogen, bei der ein ganz erheblicher Teil des geldlich meßbaren Volksvermögens in ausländische Steuerparadiese ausgewandert ist. Das Volk ist wirkungsvoll enteignet und um das Produkt seiner Lebensarbeit betrogen worden. Der Lebensstandard erreicht afrikanisches Niveau, abgesehen von einem kleinen städtischen Mittelstand und den Krisengewinnlern, den »neuen Russen«." Der britische 'Observer' zitierte den ehemaligen Auslandsgeheimdienstchef Leonid Scherbarsin, der zu dieser Zeit einen privaten Sicherheitsdienst für Banken betrieb: "Tausende Banken schossen wie Pilze aus dem Boden. Der nationale Reichtum wurde auf chaotische Weise geplündert. Kein anderes Land hat je eine Privatisierung in diesem Ausmaß erlebt. Das Klima war von grenzenloser Gier geprägt, dem Wunsch sich zu bereichern, koste es was es wolle. Die Leute an der Macht betrachteten diese Macht als Mittel zur direkten, schamlosen Selbstbereicherung." Die Wochenzeitung 'Die Zeit' untersuchte in einem mehrseitigen Dossier (27.08.1998) die Entwicklung der 90er-Jahre und erhob schwere Vorwürfe gegen den Internationalen Währungsfonds (IWF), die westlichen Regierungen und die Jelzin-Regierung. Hätte Ludwig Erhard, der deutsche Wirtschaftsminister der Nachkriegszeit, die Rezepte der russischen Roß-Kur befolgt und die deutsche Währung frei konvertieren lassen, wäre es nach Einschätzung der 'Zeit' mit dem deutschen Wirtschaftswunder spätestens 1952 vorbei gewesen.

Offenbar hatte es im gemeinsamen Interesse weltbeherrschender Konzerne und Banken als auch der kleinen Gruppe russischer Oligarchen gelegen, die Strukturen der vor 1990 zusammengebrochenen Sowjetunion zu zerschlagen. Dies ist auch der Grund, weshalb Jelzin die Unterstützung sämtlicher westlicher Regierungen und des überwiegenden Teils der westlichen Medien genoß und als "Garant des Fortschritts und der Demokratie" gepriesen wurde. In den Jahren zwischen 1990 und 1998 wurde in Rußland entsprechend der im Westen gerade erst seit wenigen Jahren etablierten neoliberalen Wirtschafts-Doktrin eine entfesselte Marktwirtschaft ohne jegliche Sozialbindung oder auch nur Effektivitäts-Sicherung durchgesetzt. Das Ziel der hinter Jelzin stehenden Kräfte galt nicht der Schaffung konkurrenzfördernder Rahmenbedingungen, sondern der Sicherung von Loyalität durch lukrative Regierungsaufträge. Korruption und Kapitalflucht erreichten gigantische Ausmaße, längerfristige Kredite für die Produktion waren kaum zu bekommen. Kleinere Unternehmen hatten praktisch keine Chance.

Nutznießer dieser Politik war eine winzige gesellschaftliche Schicht, die vor allem aus den Reihen des "kommunistischen" Jugendverbandes 'Komsomol' stammte und sich das zerfallende Staatseigentum oft mit kriminellen Methoden aneignete. So wurden bis 1995 über zweitausend Privatbanken gegründet, über deren Funktionsweise die 'Süddeutsche Zeitung' schrieb: "Die neuen Banken verdienten mit dem verfallenden Rubelkurs Millionen, manche Milliarden. Vor allem wurde ein Großteil von ihnen zur finanziellen Basis der organisierten Kriminalität. Nach einer internen Studie der Moskauer Zentralbank wurde angenommen, daß Mitte der 90er Jahre drei Viertel der Banken unter dem Einfluß der Mafia stünden. Für FBI und BKA steht fest, daß über russische Banken ein Großteil der internationalen Drogengelder gewaschen wird."

Im Sommer 1999 berichtete Timothy L. O'Brien in einer Reihe von Artikeln in der 'New York Times' über neun Konten bei der 'Bank of New York' (BNY), über die mit Wissen Jelzins bis zu 10 Milliarden US-Dollar für die russische Mafia gewaschen worden seien. In anderen Meldungen wurden Beschuldigungen laut, wonach sich die Summe gewaschener Gelder auf 15 Milliarden US-Dollar belaufen soll und sogar IWF-Gelder direkt in die Taschen der russischen Mafia geflossen sein sollen. Laut der Zeitung 'USA-Today' waren neben etlichen russischen Regierungsmitgliedern auch Jelzin und dessen Tochter Tatjana Djatschenko darin verwickelt.

1998 hatten britische Behörden, die mit der russischen Banden-Tätigkeiten befaßt waren, ihre US-amerikanischen KollegInnen darauf aufmerksam gemacht, daß sie auf eine Verbindung zwischen den Firmen YBM Magnex und Benex gestoßen seien. Erstere diente Semjon Jukowitsch Mogilewitsch als Deckfirma, letztere gehört Peter Berlin, dem Ehemann einer der Vizepräsidentinnen der BNY. Allein von Oktober 1998 bis März 1999 flossen 4,2 Milliarden US-Dollar verdächtiger Herkunft über die BNY-Konten von Benex und weiteren Firmen.

Die Spuren der kriminellen Machenschaften wiesen über Mogilewitsch, der ohnehin des organisierten Verbrechens verdächtig war, auf hochrangige Beamte in den USA und Rußland. Außerdem wurde untersucht, ob Gelder der zwischenzeitlich zahlungsunfähigen russischen Bank Menatep ebenfalls an der Geldwäscherei der BNY beteiligt gewesen waren. Menatep befand sich im Besitz des russischen Oligarchen Michail Chodorkowski und beschäftigte bis dato Konstantin Kagalowski in führender Stellung.

Kagalowskis Rolle bei der Geldwäsche-Operation wirft ein Schlaglicht auf den kriminellen Charakter der russischen Neureichen, die größtenteils der alten stalinistischen Bürokratie entstammen. Zugleich wirft die BNY-Affaire ein Licht auf die Komplizenschaft der westlichen Finanzinstitutionen, Regierungen und akademischen Berater mit den russischen Oligarchen. Kagalowski mischte in den obersten Rängen der russischen Regierung mit, er hatte ihr als Berater und Vertreter gegenüber dem IWF gedient, bevor er 1994 zu Menatep wechselte. In seinem Büro bei Menatep stellte er stolz Aufnahmen seiner Zusammenkünfte mit George Bush, John Major und anderen Führern des Westens zur Schau.

Die russischen Oligarchen benötigten die Verbindung zu westlichen Banken, weil sie sich ihrer neuerworbenen Reichtümer nicht sicher sein konnten, solange diese im Lande verblieben. Es bereitete ihnen wenig Schwierigkeiten, große internationale Banken zu finden, die bereitwillig über offenkundige Vergehen hinwegsahen, um ihnen Konten und einträglich Investitionsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Von hunderten von Milliarden gerechnet in US-Dollar, der in jenen Jahren aus Rußland abfloß, verblieb nur ein geringer Teil in den Händen der russischen Neureichen. Genug jedoch, um Milliarden-Vermögen wie das eines Michail Chodorkowski anzuhäufen.

An der Spitze dieser Schicht von russischen Neureichen standen die Oligarchen, ein knappes Dutzend Milliardäre, die auch heute noch große Finanz- und Industrieimperien ihr eigen nennen, die Medien kontrollieren und in den Schaltstellen der Macht ein- und ausgehen. Der damals bekannteste unter ihnen war der Finanz- und Ölmagnat Boris Beresowski. Er war zeitweilig Sekretär des mächtigen Sicherheitsrats und gehörte zu den engsten Vertrauten der Jelzin-Tochter und -Beraterin Tatjana Djatschenko. Er stand im Ruf, auch das beachtliche Privatvermögen der Familie Jelzin zu verwalten. Michail Chodorkowski hatte bis 2003 ein geschätztes Vermögen von über acht Milliarden US-Dollar aufgehäuft und galt als der achtreichste Mann der Welt.

Die wirtschaftliche Bilanz der Ära Jelzin ist verheerend. Die Wirtschaftsleistung fiel um die Hälfte, sie betrug nur noch 48 Prozent des Niveaus von 1990. Die landwirtschaftliche Produktion brach nahezu völlig zusammen. Eines der größten Agrarländer der Welt importierte 1999 die Hälfte aller Lebensmittel. Die soziale Statistik war noch schlimmer: Grassierende Armut ging mit dem Zusammenbruch aller Sozialsysteme einher. Der Monatslohn eines Bergarbeiters entsprach gerade noch dem Gegenwert von 40 Kilogramm Fleisch. Aber diese Löhne wurden Ende 1999 seit Monaten nicht mehr ausbezahlt. Die Schulden aller Betriebe gegenüber ihren Beschäftigten betrugen bereits im Juli 1999 67 Milliarden Rubel, ebenso viel, wie der IWF für das gesamte Jahr an Krediten zugesagt hatte.

Am 31. Dezember 1999 erklärte Jelzin seinen Rücktritt und übergab die Regierungsgeschäfte an den Ministerpräsidenten Wladimir Putin. Dieser nutzte das Chaos, um das "Primat der Politik über die Ökonomie" in Rußland wiederherzustellen - mit seiner Person als neuem Zentrum der Macht. Schon vor dieser Ernennung spielte Putin eine wichtige Rolle in Rußlands Machtstruktur, war aber in der Öffentlichkeit ein Unbekannter. Auch er stammte aus der "kommunistischen" Nomenklatura und hatte lange Zeit für den KGB gearbeitet.

Der von Putin durchgesetzte Kurswechsel führte zu wesentlichen Veränderungen des politischen Regimes und der Struktur der herrschenden Elite: Die Bürgerrechte wurden eingeschränkt, eine Schicht aus dem "Sicherheits"-Apparat, auf die sich Putin stützen konnte, erlebte einen Machtzuwachs, die Bürokratie wurde gestärkt und die Macht der Oligarchen wurde beschnitten. Putins Kurs stellte keineswegs den Charakter des postsowjetischen Regimes in Frage. Er schuf allerdings Bedingungen, unter denen das seit 1990 etablierte kapitalistische System in Rußland überleben konnte, obwohl die soziale Ungleichheit im Land wuchs, und die führenden Weltmächte um Einfluß-Sphären und Rohstoffe kämpften.

Ein makroökonomischer Boom, der ausschließlich durch den ungewöhnlichen Anstieg der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt genährt wurde, kam Putin zu Hilfe. Auch die Pleite Rußlands vom 17. August 1998 wirkte sich letztlich günstig aus, weil der Rubel auf ein Viertel seines Wertes fiel. Dadurch verbilligten sich die russischen Exporte, was wiederum zu einem Ansteigen der Industrieproduktion führte. All dies festigte Putins Sitz im Sattel.

Zentral für die Absicherung seiner Macht war Putins informeller Pakt mit den russischen Oligarchen, denen er völlige wirtschaftliche Freiheit im Gegengeschäft für deren Nichteinmischung in die Politik gewährte. Die Oligarchen Wladimir Gussinski (Medien) und Boris Beresowski (Autos, Medien) flohen ins Ausland. Andere, Roman Abramowitsch und Oleg Deripaska, folgten dem "Angebot" des Kreml-Chefs. Putin führte daraufhin eine Flat Tax von dreizehn Prozent ein. Dies bedeutet, daß ein Milliardär einen ebenso großen Prozentsatz seines Einkommens an Steuern abführen muß wie eine Reinemachefrau oder ein armer Dorfbewohner. Doch selbst dies wird in der Praxis von den Oligarchen meist unterlaufen.

Die Imperien aller führenden Oligarchen konnten praktisch legal als Offshore-Gesellschaften geführt werden. Sie konnten ihre Mittel ungehindert aus dem Land transferieren und ihre Steuerpflicht "optimieren". Auf diese Weise wurden Firmen wie Oleg Deripaskas Base Element, Roman Abramowitschs Evraz Gruppe, Alisher Usmanows Metalloinvest, Alexei Mordaschows Severstal, Igor Sjuzins Mechel und Viktor Raschnikows Hüttenkonzern in Magnitogorsk aufgebaut.

Nach 2003 wurden mehrere "Staatskonzerne" gebildet, in denen große Unternehmensteile aus verschiedenen Branchen zusammengefaßt wurden. Obwohl formal von einem von der Regierung ernannten Direktor geleitet, arbeiten sie als rein kommerzielle Unternehmen. Dabei werden sie von Sondergesetzen geschützt, die sie von normalen Steuerpflichten und anderen Vorschriften befreien.

Putin schmälerte die Rechte der Bürger weiter und der Lebensstandard des größten Teils der russischen Bevölkerung sank über mehrere Jahren. Ein neues Arbeitsrecht wurde eingeführt, demzufolge legale Streiks praktisch unmöglich wurden. Renten-"Reformen" wurden eingeführt und das Prinzip der staatlichen Garantie für die soziale Sicherheit der Rentner wurde abgeschafft. Die Kosten, die der breiten Bevölkerung für Bildung und Gesundheitsversorgung auferlegt wurden, näherten sich denen in den entwickelten Ländern Europas und der USA an, aber gleichzeitig blieben die Löhne, Renten und Sozialleistungen noch hinter denen in den ärmsten europäischen Ländern zurück.

Am 25. Oktober 2003 wurde Michail Chodorkowski verhaftet. Ihm wurde Steuerhinterziehung und Korruption zur Last gelegt wie sie von allen Oligarchen über viele Jahre ungehindert betrieben worden war. Lediglich in einem unterschied sich Chodorkowski von den übrigen Oligarchen: Er hatte sich unkluger Weise auf einen Machtkampf mit Putin eingelassen. Daß sich Chodorkowski für Demokratie oder die Unterstützung unabhängiger politischer Gruppen eingesetzt habe, ist ein Gerücht, das allein von westlichen Mainstream-Medien verbreitet wird. Ebenso wie Putin die Pseudo-Partei "Einiges Russland" auf seine Person ausrichtete, um so bei inszenierten Wahlen den Anschein von Demokratie zu verbreiten, versuchte Chodorkowski eine Partei um seine Person herum zu gruppieren, um als Gegenkandidat gegen Putin russischer Präsident werden zu können. In der Ukraine läßt sich heute bewundern, wie eine vom Westen gesteuerte und finanzierte "Demokratiebewegung" ein Land in die Abhängigkeit der internationalen Konzerne geführt hat.

Zugleich versuchte Chodorkowski, an Putin vorbei Außenpolitik zu betreiben. Mit den US-amerikanischen Öl-Konzernen Exxon und Chevron und der US-Regierung verhandelte er angeblich über eine bis zu 50-prozentige Übernahme der Yukos-Anteile. Yukos gab zugleich Pläne bekannt, ein eigenes Pipeline-Netz aufzubauen und so das Staatsmonopol über die Öl-Pipelines zu brechen und die Ölströme umzulenken.

Ebenso wie etliche andere russische Oligarchen hatte Chodorkowski seine Karriere im "kommunistischen" Jugendverband 'Komsomol' begonnen. 1987 nutzte er seinen Einfluß in einem 'Komsomol'-Bezirkskomitee zur Gründung des Unternehmens, das angeblich Erfindungen und industrielle Innovationen fördern sollte. 1990 schloß er ein Studium als Chemie-Ingenieur ab. Während der kapitalistischen Restauration, die unter Gorbatschow vorangetrieben wurde, wandelte Chodorkowski dieses Unternehmen in ein Handelsunternehmen um, danach in eine Bank, die er in 'Menatep-Invest' umbenannte. Diese übernahm in aller Stille unkontrolliert Staatsgelder, verkaufte Aktien und versprach Dividenden, die niemals ausbezahlt wurden.

Als unter Jelzin die Privatisierung im großen Stil durchgeführt wurde, benutzte Chodorkowski diese Gelder, um riesige staatliche Industriekomplexe und Chemiewerke zu einem Bruchteil ihres wirklichen Wertes aufzukaufen. 1995 gelang es ihm zum Beispiel, dem Staat für umgerechnet 159 Millionen US-Dollar 45 Prozent von Yukos abzukaufen. Die Yukos-Anteile fielen drei Banken zu. Der Umsatz von Yukos betrug im Jahr 1997 knapp sechs Milliarden US-Dollar. Yukos war auf dem Weltmark wegen seiner Ölreserven gut 40 Milliarden US-Dollar wert. Einziger Konkurrent war ein Konsortium in derselben Zusammensetzung, unter anderem Namen, das 150 Millionen US-Dollar geboten hatte. "Wo sonst auf der Welt kann man so viel Geld verdienen wie in Rußland?" wird Chodorkowski in diesem Zusammenhang am 8. Mai 2000 vom 'spiegel' zitiert. Er war unter den russischen Oligarchen der größte Gewinner, als etwa siebzig Prozent des Reichtums der ehemaligen Sowjetunion in Privatbesitz überging.

Die westlichen Mainstream-Medien reagierten im Jahr 2003 auf Chodorkowskis Verhaftung mit einem nahezu einheitlichen Aufschrei der Empörung. Während meist nur zu lesen war, Putin zeige nun sein "wahres, autoritäres Gesicht", schrieb die 'Washington Post' am 28.10.03 relativ realitätsnah: "Wenn die russische Regierung alle wohlhabenden Geschäftsleute verhaften wollte, um sie für die Gesetzesbrüche, die sie in den vergangenen zehn Jahren bei der Anhäufung von Kapital begangen haben, zur Rechenschaft zu ziehen, dann wären noch weit mehr Menschen hinter Gittern." Ganz klar ging es beim Prozeß gegen Chodorkowski darum, einen Putin-Konkurrenten auszuschalten.

Bei dem nunmehr zweiten Prozeß gegen Chodorkowski ist die Beweislage ebenso dünn wie beim ersten Prozeß der Jahr 2003 bis 2005. Doch dies mag angesichts der kaum ernstlich bestreitbaren Schuld Chodorkowskis einer stalinistischen Tradition geschuldet sein, wonach Willkür ein Ausweis für Machtfülle ist. Chodorkowski und sein Geschäftspartner Platon Lebedew sowie Komplizen hätten laut Gericht den Konzern Yukos dazu benutzt, um die Tochterunternehmen Tomskneft, Samaraneftegas und Yuganskneftegas "absichtlich in unvorteilhafte Wirtschaftsbedingungen" zu versetzten, so der Richter Viktor Danilkin. Die Yukos-Verträge mit diesen Firmen "widersprachen eindeutig den Interessen der letzteren", so Danilkin. Damit seien organisatorische Bedingungen geschaffen worden, die "für das ungehinderte Aneignen von Öl notwendig waren". Chodorkowski und Lebedew hätten zudem aus der U-Haft ihren Komplizen befohlen, Gelder ins Ausland zu überweisen, um Geldwäsche auf diesem Weg zu ermöglichen. Von 1998 bis 2004 hätten sich die Geldwäsche-Aktionen auf 487 Milliarden Rubel (mehr als zehn Milliarden Euro) belaufen. Im Jahr 2005 war Chodorkowski bereits wegen Betrugs und Steuerhinterziehung zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Bei Anrechnung von guter Führung wäre er also rechtzeitig vor der kommenden russischen Präsidentschaftswahl freigekommen.

In mehr als 400 Fällen versuchten die Verteidiger Chodorkowskis in den vergangenen 18 Monaten des Prozesses der Anklage Fehler nachzuweisen. Die Staatsanwaltschaft hat zwar ihre Angaben beim Diebstahl von Rohöl von ursprünglich 350 Millionen Tonnen auf 218 Millionen korrigiert, bei der Berechnung des Geldwertes kommen sie aber auf die fast identische Summe. Die Verteidigung wies darauf hin, daß diese Menge Öl der kompletten Fördermenge von Yukos von 1998 bis 2003 entspräche. Doch auch bei all diesen Ungereimtheiten darf nicht bezweifelt werden, daß Chodorkowski zumindest bis zur kommenden Präsidentschaftswahl im Jahr 2012 in Haft bleibt, bei der Putin erneut antreten will. Obwohl das Urteil noch nicht gesprochen ist, kritisiert Amnesty International das Verfahren, das zeige, "wie weit Russland von einem Rechtsstaat entfernt ist."

Im Falle Chodorkowskis trifft es allerdings keinen Falschen. Schon 1997 hatte der langjährige Chef des Bundeskartellamtes Wolfgang Kartte gesagt, er würde Chodorkowski "in Deutschland aus dem Stand verhaften lassen." Für den "schwarzen" Vize-Fraktionschef im Bundestag Andreas Schockenhoff ebenso wie für die pseudo-grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck ist Michail Chodorkowski hingegen eine Art moderner Robin Hood, ein "Symbol des frei denkenden Rußland."

 

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Anmerkungen

Siehe auch unseren Artikel:

      Atommüll-Frachter in Seenot
      nach Rußland-Fahrt (20.12.10)

      Korruption bedroht Überleben
      des Tigers in Rußland (26.07.10)

      Protest gegen Atommüll-Transport
      nach Rußland (10.04.10)

      Medwedew: Weltwirtschaftskrise
      trifft Rußland hart (24.10.09)

      Krieg im Kaukasus
      Mehr Blut für Öl (11.08.08)

      Rußland baut AKW
      in Bulgarien (18.01.08)

      Putin reiht sich in die Polonaise
      der Atom-Irren ein
      Bau neuer Atomraketen angekündigt (19.10.07)

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      E.on saugt Gas aus dem Osten
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      Baku-Tbilissi-Ceyhan
      Gezerre um das eurasische Pipeline-Netz (7.08.03)

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