Buch Cohn-Bendits in neuem Licht
Heppenheim (LiZ). An der Odenwaldschule in Südhessen wurden nach Informationen der 'Frankfurter Rundschau' mindestens 50 SchülerInnen in den 70er und 80er Jahren sexuell mißbraucht. Die Zeitung hatte bereits 1999 von solchen Fällen berichtet, doch damals konnten die Vorwürfe heruntergespielt und unter den Teppich gekehrt werden. "Die Zeit des Schweigens, Vertuschens und des aktiven Täterschutzes ist vorbei. Endlich!" heißt es nun im Internet-Blog.
Die seit nahezu 100 Jahren bestehende Odenwaldschule, eine renommierte Eliteschule mit monatlichem Schulgeld von rund 2.200 Euro für einen Internatsplatz, gründet sich auf die "Reformpädagogik" von Anfang des 20. Jahrhunderts. Anstelle von Zucht und Drill sollten die LehrerInnen auf die spezifischen Bedürfnisse ihrer Schutzbefohlenen eingehen und die freie Entfaltung der Persönlichkeit fördern. Die zurzeit 225 SchülerInnen - davon 200 Internats-SchülerInnen und 25 Externe - wohnen mit ihren LehrerInnen Tür an Tür im gleichen Flur. Den kleinen Klassen mit rund 16 SchülerInnen wird einE KlassenlehrerIn als "Familienoberhaupt" zugeordnet. Dies hat jedoch offenbar zu Abhängigkeiten und Intransparenz geführt. 2005 kürte das Wirtschaftsmagazin 'Capital' die Odenwaldschule zur besten hessischen Schule mit gymnasialer Oberstufe, im bundesweiten Ranking kam sie auf Platz fünf.
Die heutige Schulleiterin Margarita Kaufmann richtete nun einen alarmierenden Brief an alle ehemaligen SchülerInnen, nachdem die Vorwürfe lange Zeit auch von ihr ignoriert worden waren. Kaufmann warnt darin, daß die Odenwaldschule in Kürze deutschlandweit im Rampenlicht stehen könne - womöglich werde es ihr dabei ähnlich ergehen wie zuletzt dem Berliner Canisius-Kolleg. In einer beigefügten Stellungnahme der Schulleitung wird es konkreter: In den 70er und 80er Jahren seien etliche Minderjährige "Opfer sexueller Übergriffe nicht nur durch den damaligen Leiter der Odenwaldschule geworden". Das "Ausmaß der Verbrechen", so die Rektorin, habe sie "massiv erschüttert und irritiert".
Kaufmann hat mittlerweile nach eigenen Angaben zahlreiche Gespräche mit früheren SchülerInnen geführt, deren Aussagen sie für "absolut glaubwürdig" erachtet. Die früheren SchülerInnen, fast alles Männer, berichteten davon, wie sie als 13-, 14-Jährige von Lehrern regelmäßig durch das Streicheln der Genitalien geweckt, morgens unter der Dusche begrapscht, wie sie als "sexuelle Dienstleister" für ganze Wochenenden eingeteilt und wie sie zu Oralverkehr gezwungen wurden. Einzelne Lehrer hätten ihren Gästen sogar Schüler zum sexuellen Mißbrauch überlassen. Mindestens vier ehemalige Odenwald-Lehrer wurden durch frühere SchülerInnen belastet. Mindestens fünfzig SchülerInnen seien von diesen Lehrern mißbraucht worden. Von bis zu hundert Mißbrauchsopfern an der Odenwaldschule gehen die früheren SchülerInnen insgesamt aus.
Am 17. November 1999 hatte die 'Frankfurter Rundschau' unter der Überschrift "Der Lack ist ab" über Mißbrauchsfälle durch den ehemaligen Leiter der Odenwaldschulde Gerold Becker berichtet. Becker, der die Schule von 1971 bis 1985 geleitet hatte, gab die Vorwürfe 1999 bei einem Gespräch mit dem Trägerverein der Odenwaldschule zu, konnte aber wegen Verjährung der Taten nicht belangt werden. Nie wurde geklärt, ob noch andere LehrerInnen zu TäterInnen wurden, nie geprüft, wie viele SchülerInnen mißbraucht wurden, nie gefragt, welche Schäden die Opfer davongetragen haben oder wie ein derart massiver Mißbrauch jahrelang unentdeckt bleiben konnte. "Es war eine Unterlassung und ein grober Fehler, daß die Schule damals nicht nachgeforscht hat", sagt heute Margarita Kaufmann, die seit 2007 im Amt ist. Auch die staatliche Aufsicht hat - merkwürdig im Falle einer "freien Schule" - vor zehn Jahren offenbar beide Augen zugedrückt.
Prominente Ex-Schüler sind der "Grünen"-Politiker Daniel Cohn-Bendit, der die Odenwaldschule von 1958 bis 1965 besuchte, und die Journalistin und TV-Moderatorin Amelie Fried. Auch der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker schickte einen seiner Söhne auf die Schule.
Cohn-Bedit hat in seinem 1975 veröffentlichten Buch "Der große Basar" über seine Zeit, als er 1972 im Kindergarten der Frankfurter Universität arbeitete, geschrieben: "Mein ständiger Flirt mit allen Kindern nahm bald erotische Züge an. Ich konnte richtig fühlen, wie die kleinen Mädchen von fünf Jahren schon gelernt hatten, mich anzumachen. Es ist kaum zu glauben. Meist war ich ziemlich entwaffnet. (...) Es ist mir mehrmals passiert, daß einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln. Ich habe je nach den Umständen unterschiedlich reagiert, aber ihr Wunsch stellte mich vor Probleme. Ich habe sie gefragt: »Warum spielt ihr nicht untereinander, warum habt ihr mich ausgewählt und nicht andere Kinder?« Aber wenn sie darauf bestanden, habe ich sie dennoch gestreichelt." (S. 139 bis 147 im Kapitel "Little Big Men")
Das Buch galt lange Zeit als verschollen, löste aber 1999 in Frankreich einen Eklat aus, als Cohn-Bendit für die französischen "Grünen" kandidierte. In einem 2001 in der 'Berliner Zeitung' veröffentlichten Brief erklärte Cohn-Bendit, ihm sei 1972 "das Problem nicht bewußt gewesen". Er habe versucht, "in einem kollektiven Diskurs eine neue Sexualmoral zu definieren". Bei der Schilderung in seinem Buch habe es sich lediglich um "ich-bezogene Selbstreflexion" gehandelt. Nun hat zwar der selbsternannte "Achtundsechziger- Anführer" schon so Einiges behauptet, was nicht ernst zunehmen war, und von Vielem wiederum das Gegenteil. Im Zusammenhang mit den Mißbrauchsfällen an der Odenwaldschule und der Tatsache, daß Mißbrauchsopfer nicht selten selbst zu Tätern werden, erscheinen seine Aussagen heute jedoch in einem neuen Licht.
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Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Katholische Kirche und Glaubwürdigkeit:
Systematischer Mißbrauch in Klosterinternat Ettal
Sex-Skandal im Vatikan (5.03.10)
Pädophilie-Affaire der katholischen Kirche
Geheimschreiben aus dem Jahr 2001
belastet Papst Benedikt XVI. (22.02.10)