Stuttgart, Nürnberg, Dortmund, Erfurt (LiZ). Nur rund 90.000 Menschen haben an den vom Deutschen Gewerkschafts- bund (DGB) organisierten vier Demonstrationen in Stuttgart, Nürnberg, Dortmund und Erfurt gegen Sozialabbau teilgenommen. An der Basis der Gewerkschaften wird Kritik laut, daß die als "Heißer Herbst" angekündigten Aktionen von der Gewerkschafts- bürokratie nur mit halber Kraft organisiert wurden.
Bei der am Demo gegen Sozialabbau kamen auf dem Stuttgarter Schloßplatz nur rund 40.000 Menschen zusammen, obwohl die Gewerkschaften kostenlose Busse aus allen Teilen Baden-Württembergs aufgeboten hatten. Als eine der wenigen Ausnahmen unter den Gewerkschafts- RednerInnen kritisierte IG-Metall-Chef Berthold Huber in klaren Worten die Lenkung der "schwarz-gelben" Bundesregierung durch die Konzern-Spitzen: "Wir wollen keine Republik, in der mächtige Interessengruppen mit ihrem Geld, mit ihrer Macht und mit ihrem Einfluß die Richtlinien der Politik bestimmen". Daß diese Lenkung der Politik in Hinblick auf Steuergeschenke, Sozialabbau und unbefristete AKW-Laufzeiten allerdings ebenso in der Zeit der "rot-grünen" Bundesregierung zwischen 1998 und 2005 funktioniert hatte, blendet Huber nach wie vor aus.
Daß Huber keine fundierte Kritik des Kapitalismus kennt, erwies sich bei einem Schwerpunkt seiner Rede. Bezeichnender Weise sprach er von "Finanzkrise" statt von Weltwirtschaftskrise und erweckte den Anschein, diese gehöre bereits der Vergangenheit an. "Sie hat unsere Welt an den Rand des Abgrundes gebracht", sagte er. Statt die strukturellen globalen Ursachen der Krise wahrzunehmen, verlegte sich Huber auf eine Kritik an einer "marktradikalen Minderheit" und an den Banken.
Huber kritisierte die "Zerstörung des Sozialstaats" und eine "Diktatur des Profits". Wer glaube, sich hemmungslos bereichern zu können, stehe nicht mehr auf dem Boden der Verfassung. "Diese Leute spalten unsere Gesellschaft, zerstören den sozialen Zusammenhalt und sorgen dafür, daß die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht," sagte Huber. Der IG-Metall-Chef forderte eine Kehrtwende in der Politik. "Es verhöhnt das Sozialstaatsgebot unseres Grundgesetzes, wenn ich sehe, wie fahrlässig, wie verantwortungslos, wie zynisch Unternehmen und Politik die Zukunftschancen unserer Jugend verspielen," so Huber in Stuttgart. Bildung sei wieder zur Klassenfrage geworden, einem "Klassenkampf von oben gegen Arbeiter- und Angestelltenfamilien". Beachtlich und unter Gewerkschaftsfunktionären selten war zudem die klare Ablehung von "Stuttgart 21" aus dem Munde Hubers.
Wie viel Verlaß auf einen Gewerkschafts-Funktionär aber ist, der wie Huber vor Kurzem seinen 60. Geburtstag auf Einladung von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Kanzleramt feierte, muß sich noch erweisen. Aber vielleicht nutzte Huber die Gelegenheit, um Geburtstagsgästen wie Arbeitgeber-Präsident Martin Kannegiesser, Siemens-Chef Peter Löscher und VW-Chef Martin Winterkorn ins Gewissen zu reden?
Wenig mehr als 30.000 Menschen folgten dem DGB-Demo-Aufruf in Nürnberg. Auf den Kundgebungen griffen DGB-RednerInnen die Forderung nach gebührenfreier Bildung auf. Bei der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn wurde meist nur ein Stundenlohn von 8,50 Euro genannt. Deutlich wurde hingegen die Absage an die - von der "S"PD mitverantwortete - Rente mit 67 und die "Gesundheitsreform", die in erster Linie der Profit-Steigerung der Pharma-Konzerne dient. Zu hören war auch die Forderung nach gleicher Bezahlung von LeiharbeitnehmerInnen.
In Dortmund beteiligten sich an einem gewerkschaftsintern kurzfristig durchgesetzten Demonstrationszug durch die Innenstadt nur rund 3.000 Menschen. Die meisten Gewerkschaftsbusse wurden - "wegen des starken Regens" - direkt zur Dortmunder Westfalenhalle gelenkt. An der anschließenden Veranstaltung in der Halle nahmen nach DGB-Angaben rund 14.000 Menschen teil. Hier trat ver.di-Chef Frank Bsirske auf. Der Gewerkschaftsfunktionär mit "grünem" Parteibuch sprach davon, in Deutschland ticke eine "soziale Zeitbombe". Die "schwarz-gelbe" Regierung betreibe eine egoistische Klientelpolitik, die selbst von angestammten CDU-WählerInnen nicht mehr verstanden werde. "Diese Regierung macht die Menschen zu Deppen der Nation, die Tag für Tag hart arbeiten und trotzdem von ihrem Einkommen nicht leben können," kritisierte Bsirske. "Unten belasten und oben entlasten - das ist der falsche Weg." Beachtlich ist, daß Bsirske die Forderung der Gewerkschaftsbasis nach einem politischen Generalstreik, wenn auch nur dessen gesetzliche Verankerung, in seiner Rede aufgriff. Daß diese Forderung Bsirskes nach einem politischen Streikrecht wenig glaubwürdig ist, zeigte sich jedoch in den vergangenen Monaten, als in Frankreich gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 60 auf 62 Jahre gestreikt wurde. Solidarität war von Seiten Bisirskes nicht erkennbar.
In Erfurt brachte der DGB nur rund 6.000 Menschen auf die Straße. Dort trat IG-Metall-Bezirksleiter Armin Schild auf. Zuletzt hatte der DGB am 6. November im Rahmen des angekündigten "Heißen Herbst" gegen Sozialabbau in Hannover nur rund 15.000 Demo-TeilnehmerInnen zu verzeichnen. Diese Demo war zudem in Konkurrenz zu der zeitgleich und nur wenige Kilometer entfernt stattfindenden Auftakt-Demo zu den CASTOR-Protesten angesetzt worden. Angesichts der jammervollen Zahlen sprachen sich viele Demo-TeilnehmerInnen am heutigen Samstag dafür aus, statt auf dezentrale und in kurzer Folge stattfindende Demos auf nur ein oder zwei zentrale Demos zu setzen. Mit etwas mehr Engagement sei dann auch eine Beteiligung von mehr als 100.000 Menschen zu erwarten. Dies könne die Politik weit mehr beeindrucken. Ansonsten drohe eine weitere Demoralisierung der Gewerkschaftsbasis.
Der DGB kündigte hingegen bereits an, den "Heißen Herbst" wie gewohnt fortzusetzen. Dies deutet darauf hin, daß es der Gewerkschaftsführung darum geht, Druck aus dem Protest gegen Sozialabbau zu nehmen, den Menschen lediglich eine Möglichkeit zu bieten, "Dampf abzulassen", statt den Versuch eines effektiven Kampfes gegen Sozialabbau zu wagen. Und so hatte IG-Metall-Chef Huber seiner Aussage, "Bis dato war dieser Herbst der Herbst der Entscheidungen gegen die sozial Schwächeren", nichts hinzuzufügen. Als nächstes ist eine Demo in Kiel für Donnerstag, 18. November, angekündigt.
In diesem Zusammenhang ist ein Blick zurück auf die Anti-Sozialabbau-Demos der vergangenen Jahre sinnvoll. Am 1. November 2003 fand ohne gewerkschaftliche Unterstützung eine selbstorganisierte Demo gegen Sozialabbau in Berlin statt, an der sich über 100.000 Menschen beteiligten. Im April 2004 waren zur Stuttgarter Demo gegen Sozialabbau 150.000 Menschen gekommen. Diese Demo war vom DGB organisiert und bereits in der Vorbereitungsphase mehrten sich Anzeichen, daß es vielen DGB-FunktionärInnen mehr ums Bremsen als ums Mobilisieren ging.
Ende August, Anfang September 2004 hatten sich zeitweise über 200.000 Menschen bundesweit an den Montags-Demos gegen Sozialabbau beteiligt. Ende September provozierten attac und sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen orientierte Kräfte die Spaltung der Montags-Demo-Bewegung und leiteten damit deren Niedergang ein. Anfang Oktober 2004 fanden dann in Berlin nahezu zeitgleich zwei konkurrierende Demos gegen Sozialabbau statt. Auch in den Jahren der "rot-schwarzen" Regierung von 2005 bis 2009 glich das Engagement des DGB gegen Sozialabbau eher einem Stillhalteabkommen.
All die negativen Erfahrungen dürfen jedoch nicht dazu führen, daß sich immer mehr Menschen von den Gewerkschaften abwenden und in die Isolierung verabschieden. Im Gegensatz zu Parteien bieten Gewerkschaften eine reale Chance, basisdemokratische Strukturen zu verwirklichen und so dem Kapital eine organisierte Kraft entgegenzusetzen. Dazu bedarf es jedoch zunächst eines Kampfes innerhalb der Gewerkschaften, um sie wieder zu Instrumenten für die Interessen der abhängig Beschäftigten zu formen.
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Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Real über 9 Millionen Arbeitslose
Die Tricks der Bundesregierung (28.10.10)
Aufschwung oder Weltwirtschaftskrise?
Ist Deutschland eine Insel der Seeligen? (1.10.10)
Von der Leyens Hartz-IV-Reform:
Nominal 5 Euro Plus ab 2011 - real ein Minus (26.09.10)
Bilanz von fünf Jahren Hartz IV
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Demo gegen Sozialabbau
15.000 in Berlin (6.11.05)
70.000 in Brüssel gegen europaweiten Sozialabbau
Aufbruch und Lähmung (20.03.05)
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130.000 DemonstrantInnen gegen Sozialabbau (25.08.04)
Die Wut wächst
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(7.11.03)