Berlin (LiZ). Mehr als sechs Millionen deutsche Kinder und Jugendliche, also rund ein Drittel, leben in Armut. Ihre Zahl hat in den vergangenen Jahren - ebenso unter "Rot-Grün" wie unter "Schwarz-Rot" - rasant zugenommen. Es ist gerade im Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung ein Armutszeugnis für eines der reichsten Länder der Welt, wenn jedes dritte Kind schlechte Startbedingungen hat. Deutschland steht im europäischen Vergleich am unteren Ende der Skala. Am heutigen Weltkindertag wird zwar mancherorts über die Benachteiligung von Kindern in Deutschland geklagt - es gehe jedoch "nicht darum, Schuldige zu finden", erklärte etwa ein Vertreter des Kinderschutzbundes im schwäbischen Schramberg offenherzig. Und so wird sich vermutlich auch unter "Schwarz-Gelb" die Lage weiter verschärfen.
Im "Kinderreport Deutschland 2007" hatte das 'Deutsche Kinderhilfswerk' (DKHW) die Zahl von 5,9 Millionen Kindern und Jugendlichen genannt, die als arm zu gelten haben. Und laut einer Studie der Prognos AG leben in Haushalten ohne erwerbstätigen Elternteil 72 Prozent der Kinder unter der Armutsgrenze.
Ende 2002 waren 1,02 Millionen Kinder von Sozialhilfe abhängig
Ende 2003: 1,08 Millionen Kinder
Ende 2004: 1,34 Millionen Kinder
Ende 2005: 1,7 Millionen Kinder
Ende 2006: 1,9 Millionen Kinder
"Deutlichere Anstrengungen" fordert nun etwa der Bundesgeschäftsführer des Sozial- und Wohlfahrtsverbandes 'Volkssolidarität', Dr. Bernd Niederland von "der Politik". Es steht zu befürchten, daß "Familien"-Ministerin Ursula von der Leyen ihn so versteht, daß die Zahl der verarmten Kinder in Zukunft noch schneller ansteigen soll.
Seit langem ist bekannt, daß Kinder, die in Armut aufwachsen, deutlich schlechtere Bildungs-Chancen haben, vom Alltag der oberen Zweidrittel ausgeschlossen sind, sozial ausgegrenzt werden und häufiger gesundheitliche Probleme bekommen. "Langzeitarbeitslosigkeit, Ein-Euro-Jobs und Niedriglöhne bieten kaum Chancen auf bessere Lebensverhältnisse. Das überträgt sich auf die Kinder. Ihnen werden schon in jungen Jahren Perspektiven und Chancen vorenthalten. Das darf nicht hingenommen und muß verändert werden," erklärt Niederland von der 'Volkssolidarität'.
Besonders desolat ist die Lage im von "Rot-Rot" regierten Bundesland Berlin. Insgesamt beziehen derzeit 36 Prozent der Kinder unter 15 Jahren Sozialleistungen. Nach einem leichten Rückgang im Jahr 2008 ist die Zahl in Berlin 2009 wieder gestiegen. "Wenn wir nicht umgehend gezielt etwas gegen Kinderarmut unternehmen, geben wir den Großteil einer ganzen Generation verloren", sagte Sabine Walther, Vorsitzende des Berliner Kinderschutzbundes.
Der Sozialverband 'Volkssolidarität' fordert am heutigen Weltkindertag "wirksame Sofortmaßnahmen die wachsende Kinderarmut." Hartz IV müsse dringend erhöht und an den "spezifischen Bedarf von Kindern und Jugendlichen angepaßt" werden. Statt weiterer Kürzungen für Hartz IV-Familien müßte gerade ihnen unter die Arme gegriffen werden. Damit könnte die Spirale der "vererbten Armut" durchbrochen werden. Der Kinderschutzbund fordert konkret 502 Euro im Monat für jedes Kind und zudem bundesweit einen Ausbau von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen. Ob es da allerdings etwas nützt, wenn Kinderschutzbund und Caritas Aktionen veranstaltet, bei denen Eltern Postkarten an Bundeskanzlerin Angela Merkel versenden, steht dahin. Dabei treten dann nicht selten BürgermeisterInnen oder LokalpolitikerInnen auf, die viel heiße Luft produzieren wie etwa: "Die Gesellschaft muß gemeinsam für ihre Kinder kämpfen", zugleich jedoch an den maroden städtischen Haushalt erinnern und die Menschen an die Bundespolitik verweisen.
Von den Sozialverbänden wird gefordert, daß die Rahmenbedingungen für Familien und Kinder durch Maßnahmen in der Familienpolitik, der Bildungspolitik, der Gesundheitspolitik, der Jugendhilfe und der Sozialpolitik sowie in der Arbeitsmarktpolitik verbessert statt verschlechtert werden müssen. Verbesserungen in der sozialen Infrastruktur, kostenfreie Schulausbildung und kostenloses Mittagessen in Kindergärten und Schulen ebenso wie den Ausbau der Kinderbetreuung und den freien und chancengleichen Zugang zu Bildung für alle Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrer sozialen Herkunft werden angemahnt.
Die 'Volkssolidarität' werde unter anderem als Träger von 393 Kindertagesstätten mit mehr als 39.000 Plätzen im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles dafür tun, um die Folgen von Kinderarmut zu lindern, erklärte Bundesgeschäftsführer Niederland. "Aber als Sozial- und Wohlfahrtsverband können wir nicht die Löcher stopfen, die durch die fortgesetzte Politik des Sozialabbaus gerissen werden. Notwendig ist eine Politik für Kinder und Eltern, die allen eine sichere Zukunftsperspektive bietet."
Auch wenn die kirchliche Hilfsorganisation Caritas es nicht direkt eingesteht, daß sie keine Hoffnung auf eine veränderte Politik von "Schwarz-Rot-Grün-Gelb" setzt, spricht es Bände, daß sie nun versucht, Druck auf die Europäische Kommission auszuüben, um die soziale Lage in Deutschland zu verbessern: In einer "Petition gegen Armut", die von über 40 europäischen Caritas-Verbänden unterstützt wird, sollen eine Million Unterschriften gesammelt werden. Ziel der Petition ist eine "europäische Bürgerinitiative", um die EU-Kommission zu einer Gesetzesinitiative zu veranlassen.
Daß auch auf lokaler Ebene Verbesserungen möglich sind, wenn der politische Wille vorhanden ist, beweist ausgerechnet die Stadt Dormagen im überschuldeten Ruhrgebiet. Der Bürgermeister von Dormagen Heinz Hilgers hat vor fünf Jahren ein Konzept eingeführt, das in der Hauptsache auf besserer Betreuung basiert und zugleich Überwachung vermeidet. In Dormagen konnte so erreicht werden, daß auch ohne Kitapflicht 100 Prozent der Kinder drei Jahre lang eine Kita besuchen. In den Kindertagesstätten erhalten die Eltern nachmittags Erziehungskurse und Beratung. Heute, so Hilgers, gebe es zum Zeitpunkt der Einschulung kaum noch Sprachdefizite bei den Kindern.
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Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
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Erneuter Sozialabbau
trotz Urteil des Bundesverfassungsgerichts? (2.08.10)
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(1.09.09)
Kinderarmut in Deutschland
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und Kinder-T-Shirts (30.07.2007)
Studiengebühren legalisiert
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(19.06.07)
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und die Unternehmenssteuerreform (4.06.07)
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PISA offenbart vertiefte Kluft
zwischen Arm und Reich (31.10.2005)
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in Kinderfeindlichkeit
Stärkster Anstieg bei Kinderarmut (2.03.2005)