17.02.2015

Belgien: Materialermüdung in AKW
Reaktordruckbehälter weltweit betroffen?

Risse im Stahl
Brüssel (LiZ). Bei der Untersuchung der Reaktordruckbehälter der belgischen Atom-Reaktoren Doel 3 und Tihange 2 wurde weitere Tausende Risse festgestellt. Zwei renommierte Materialwissenschaftler warnen vor der bislang von offizieller Seite möglicherweise unterschätzen Materialermüdung durch den Neutronen-Beschuß. Greenpeace fordert, sofort sämtliche 435 Atom-Reaktoren weltweit genau zu überprüfen.

Tausende neu festgestellte Risse der Reaktordruckbehälter der beiden belgischen Atom-Reaktoren Doel 3 und Tihange 2 haben möglicherweise schwerwiegende Konsequenzen für sämtliche Atomkraftwerke weltweit. "Wie so oft bei Atomkraftwerken wurde die Tragweite des Problems offensichtlich verkannt," sagt Heinz Smital, Kernphysiker und Atomexperte von Greenpeace. "Es ist dringend notwendig, die Risse im Metall ernster zu nehmen als bisher und weltweit umfangreiche Untersuchungen durchzuführen." Greenpeace Belgien konstatiert, daß sich die Nuklear-Industrie nicht nur seit Jahren in einer schweren Krise befindet, sondern nun zudem mit ihrem Bestand an überalterten Atom-Reaktoren einem dramatisch steigenden Risiko gegenübersieht.

Laut Greenpeace haben (Stand Mitte 2014) die weltweit 435 kommerziellen Atom-Reaktoren ein Durchschnitts-Alter von 28,5 Jahren erreicht - ursprünglich ausgelegt für eine Betriebsdauer von 25 Jahren. 170 Atom-Reaktoren (44 Prozent) haben bereits eine Betriebsdauer von 30 Jahren überschritten und 39 Reaktoren sind bereits über 40 Jahre am Netz. Der 1969 in Betrieb genommene ältere der beiden Atom-Reaktoren des Schweizer AKW Beznau ist mit mittlerweile 45 Jahren der weltweit älteste.

Schon 2010 hatte der österreichische Werkstoffphysiker Professor Wolfgang Kromp vor der unterschätzten Versprödung des Stahls der Reaktordruckbehälter gewarnt. Diese Behälter, in denen sich die Brennstäbe mit Uran befinden, müssen hohen Drücken und Temperaturen und - im Falle der Schnellabschaltung - Temperaturschocks standhalten können.

Besonders kritisch beurteilt Kromp eine Schweißnaht, die rund um den Druckbehälter verläuft und bei hohem Druck einer hohen Materialspannung ausgesetzt ist. Kromp vergleicht die Wirkung einer solchen wiederholten Belastung mit dem Biegen eines Drahtes, der nach einer gewissen Zahl von Wiederholungen bricht.

Vor dem Bruch einer solchen Schweißnaht entstehen kleinste Risse an besonders beanspruchten Stellen. Diese Risse können sich innerhalb kurzer Zeit gefährlich ausweiten. Das Kühlwasser entweicht unter hohem Druck, die Temperatur im Inneren des Behälters steigt und die Brennstäbe können durchschmelzen wie dies in Harrisburg (1979), in Tschernobyl (1986) und in Fukushima (2011) der Fall war.

Um die Stabilität der Reaktordruckbehälter-Wandung zu bestätigen, beschränkten sich Gutachten bislang auf indirekte Verfahren. Es wurden Materialproben derselben Legierung, aus der der Reaktordruckbehälter besteht, eingehängt, um ihre Materialeigenschaften von Zeit zu Zeit zu untersuchen. Laut Theorie würden diese demselben Neutronen-Beschuß ausgesetzt wie die Behälterinnenwand, sodaß deren Versprödung am Zustand der Materialproben abgelesen werden könne. Doch diese Proben stehen nicht unter der Materialspannung, unter der die gebogene Außenwand eines Zylinders steht. Mehr noch: Mit diesen Proben kann der Zustand von Schweißnähten laut Professor Kromp nicht einmal annähernd simuliert werden (Siehe unseren Artikel v. 30.07.10).

Nach den alarmierenden Ergebnissen der Untersuchungen in den beiden belgischen Atomkraftwerken sprach der Leiter der belgischen Atomaufsicht FANC (Federal Agency for Nuclear Control), Jan Bens, von einem möglichen "globalen Problem für die gesamte Nuklear-Industrie". Bens empfahl daher in einem Interview mit dem nationalen belgischen TV eine akkurate Untersuchung aller 435 Atom-Reaktoren weltweit. "Wir haben unsere internationalen Kollegen bereits informiert und beraten.“ Auch an den Untersuchungen in Belgien beteiligte WissenschaftlerInnen warnen vor einem unvorhersehbaren Versprödungs-Bruch in einem der weltweit 435 Atom-Reaktoren. Die Materialermüdung sei bislang offenbar unterschätzt worden. "Ich würde mich tatsächlich wundern, wenn das nirgendwo anders auch aufgetreten wäre," sagte Walter Bogaerts von der Universität Leuven.

Greenpeace hat in Belgien auf Herausgabe aller Untersuchungs-Dokumente geklagt und dieses Verfahren im Januar auch gewonnen. Die belgische Atomaufsicht verweigert jedoch bisher die Übergabe mit der Begründung, die Papiere zunächst auf etwaige Verschluß-Sachen überprüfen zu müssen.

Bereits im Sommer 2012 wurden bei der Revision des belgischen Reaktors Doel 3 mit Ultraschalluntersuchungen unerwartete feine Risse im Stahl des Reaktordruckbehälters festgestellt (Siehe unsere Artikel v. 9.08.12, v. 17.08.12 und v. 15.02.13). Wenig später wurden bei Ultraschall-Untersuchungen ähnliche Risse im Druckbehälter des Reaktors Tihange 2 festgestellt. ExpertInnen deuteten die Risse als sogenannte Wasserstoff-Flocken, Fehleinschlüsse bei der Herstellung des Reaktordruckbehälters. Daher wurden hauptsächlich alte Herstellungsunterlagen gesichtet. Eine komplette und genaue Untersuchung der Reaktordruckbehälter blieb aus. Herstellungsfehler konnten jedoch nicht belegt werden. Die Atomaufsicht ordnete weitere Tests an und veröffentlichte im Dezember 2014, daß dabei weitere Tausende Risse in den Reaktordruckbehältern gefunden worden waren, deutlich mehr als erwartet. Insgesamt wurden 13.047 Risse im Druckbehälter von Doel 3 und 3.149 Risse im Druckbehälter von Tihange 2 entdeckt.

Der Reaktordruckbehälter ist das "Herz" eines Atomreaktors. In ihm befinden sich die hochradioaktiven Brennelemente, mit deren nuklearer Kettenreaktion Wasser erhitzt wird. Ein plötzliches Versagen des Reaktordruckbehälter ist in den Auslegungen der Atomreaktoren nicht vorgesehen und könnte zu katastrophalen Freisetzungen radioaktiver Strahlung führen. Greenpeace fordert daher sämtlich Atom-Reaktoren sofort abzuschalten und die erforderlichen Untersuchungen durchzuführen.

Bundes-Atom-Ministerin Barbara Hendricks zeigt sich jedoch bis dato unberührt von den belgischen Untersuchungs-Ergebnissen. Es lägen noch keine "eigenen Erkenntnisse" über die neue Bewertung des Leiters der belgischen Atomaufsicht zu den beiden Atomkraftwerken Doel 3 und Tihange 2 vor, so Ministeriumssprecher Michael Schroeren, der schon unter Atom-Minister Jürgen Trittin im Dienst war.

Im Gegensatz hierzu hat der belgische Strom-Konzern Electrabel (ein Tochter-Konzern von GDF/Suez) am 15. Februar angekündigt, einen seiner derzeit noch mit Betriebsgenehmigung ausgestatteten Reaktordruckbehälter zu "opfern", um daran direkte Materialuntersuchungen vor dem unbefriedigenden Hintergrund der wenig geklärten und extrem beunruhigenden Riss-Phänomene vornehmen zu können.

Nun hätte beispielsweise der Reaktordruckbehälter des am 11. Mai 2005 nach knapp 37 Jahren Betriebszeit stillgelegten AKW Obrigheim auf Versprödung untersucht werden können. Doch dies wird mit aller Macht verhindert. Auch die "grün-rote" baden-württembergische Landesregierung zeigt hieran kein Interesse.

 

LINKSZEITUNG

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel zum Thema Materialermüdung in AKW:

      Bruch nun auch an Drosselkörpern
      im AKW Philippsburg (7.07.14)

      AKW Grohnde - Fremdkörper
      im Reaktor-Druckbehälter entdeckt (16.05.14)

      Werden die belgischen Atomkraftwerke
      Doel und Tihange wieder hochgefahren? (15.02.13)

      Französischer Physik-Professor fordert
      Stilllegung des AKW Fessenheim (15.02.13)

      8000 Risse im AKW Doel
      Stilllegung dennoch ungewiß (17.08.12)

      Riß im Reaktordruckbehälter
      des belgischen AKW Doel (9.08.12)

      Marode Druckbehälter deutscher AKW
      Blockade von Untersuchungen (30.07.10)

      AKW in den USA
      zeigen deutliche Material-Probleme
      Laufzeiten von 40 Jahren utopisch
      Zunehmende Gefährdung (11.10.09)