8.01.2011

Internationale Liga für Menschenrechte
unterstützt Volkszählungs-Boykott

Nur Schafe lassen sich zählen Berlin (LiZ). Zur Zeit werden ZählerInnen für den "Zensus 2011" gesucht. Vielfach melden sich in den Rathäusern NPD-Mitglieder als Freiwillige, um so an Daten über Linke und Antifas zu gelangen. In einer öffentlichen Stellungnahme bezeichnet nun die 'Internationale Liga für Menschenrechte' (ILM) den Volkszählungs-Boykott als gerechtfertigt und unterstützenswert. Der "Zensus 2011" sei "verfassungs- und datenschutzrechtlich hochproblematisch", erklärte ILM-Vizepräsident Rolf Gössner.

Die Vorbereitungen für die Volkszählung "Zensus 2011" laufen derzeit auf Hochtouren. Städte und Landkreise suchen händeringend Ehrenamtliche, die im Mai in ausgewählten Haushalten Fragen zu den Lebensumständen der Bürger stellen und angeblich beim Ausfüllen behilflich sein sollen. Die NPD hat in einem internen Aufruf ihre Mitglieder mobilisiert, um sich als ehrenamtliche "InterviewerInnen" für die Volkszählung zur Verfügung zu stellen. Von staatlicher Seite gibt es keine effektiven Maßnahmen, um Neo-Nazis von ihrem "staatstragenden" Engagement abzuhalten. Die Präsidentin des sächsischen Statistischen Landesamts erklärte lediglich, die ehrenamtlichen "Erhebungsbeauftragten" - wie es amtlich heißt - würden vor ihrem Einsatz "ermahnt", sich an die Auflagen zu halten.

Der "Zensus 2011" soll Basis- und Strukturdaten über Bevölkerung, Migration, Alter, Familienstand, Erwerbstätigkeit, Wohnsituation und vieles mehr liefern, auf denen dann politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Planungsprozesse bei Bund, Ländern und Kommunen aufbauen sollen. Es geht dabei nach offizieller Darstellung unter anderem um den demografischen Wandel, um Infrastrukturplanung und den Länder- und kommunalen Finanzausgleich.

Die 'Internationale Liga für Menschenrechte' (ILM) erachtet den "Zensus 2011" auch nach dem Scheitern einer Klage beim Bundesverfassungsgericht als mißbrauchsanfällig. Zudem verstoße er gegen das Recht auf informelle Selbstbestimmung, das vom Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom Februar 2008 anerkannt wurde.

"Der Zensus 2011 ist nicht nur aufwändig und teuer, sondern führt den verhängnisvollen Trend zur Verdatung der Bevölkerung fort," erklärte ILM-Vizepräsident Rolf Gössner. Dabei werde diese Volkszählung - entgegen den Werbebotschaften aus Politik und Wirtschaft - keine politischen und wirtschaftlichen Fehlplanungen verhindern. "Aus aktuellen Zahlen erfolgt nicht zwangsläufig eine bessere und gerechtere Politik," meint Gössner. "Vor allem aber ist der Zensus 2011 in hohem Maße mißbrauchsanfällig und dürfte in wesentlichen Punkten gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verstoßen."

Gössner argumentiert, mit dem registergestützten Zensus sei eine umfangreiche Erfassung und Zusammenführung von persönlichen Daten der gesamten Bevölkerung aus diversen staatlichen Registern verbunden. "Und dies ohne Einwilligung der Betroffenen," so Gössner. "Ein erheblicher Bevölkerungsanteil wird darüber hinaus verpflichtet, Fragen aus dem persönlichen Lebensbereich zu beantworten - bundesweit sollen etwa acht Millionen Menschen betroffen sein, die von rund 80.000 Erhebungsbeauftragten 'interviewt' werden sollen. Außerdem müssen alle rund 18 Millionen Haus- und WohnungseigentümerInnen sowie alle BewohnerInnen sensibler Sonderbereiche - Seniorenheime, Psychiatrische Krankenhäuser, Kasernen, Gefängnisse et cetera - detaillierte Auskünfte geben."

Das Bundesverfassungsgericht hat zwar eine gegen den Zensus gerichtete Verfassungsbeschwerde von BürgerrechtlerInnen, die von über 13.000 Menschen unterstützt wurde,
www.vorratsdatenspeicherung.de
Ende September vorigen Jahres nicht zur Entscheidung angenommen. Doch die ILM hält auch danach ihre rechtlichen Bedenken und ihre rechtspolitische Kritik aufrecht - zumal dieser Gerichtsbeschluß letztlich aus formalen, nicht aus inhaltlich-verfassungsrechtlichen Gründen erfolgt sei. Proteste gegen die Volkszählung 2011, die bundesweit über 700 Millionen Euro kosten wird, seien laut ILM auch "weiterhin gerechtfertigt".

Rolf Gössner faßt die die wichtigsten Kritikpunkte am "Zensus 2011" und am zugrunde liegenden Gesetz so zusammen:

  • Mit den zweckentfremdeten Informationen aus diversen staatlichen Datenbanken, angereichert mit sensiblen Daten einer Zwangsbefragung, entstehen hoch problematische Personenprofile.

  • Die Daten werden in einer Zentraldatenbank zusammengeführt und können über eindeutige Ordnungsnummern verknüpft bzw. zugeordnet werden - obwohl das Bundesverfassungsgericht eine solche Identifikations- oder Personenkennziffer bereits in früheren Urteilen untersagt hatte.

  • Die erhobenen und verknüpften Daten werden nicht etwa unmittelbar nach ihrer Auswertung gelöscht, sondern bleiben bis zu vier Jahre lang gespeichert und über die Ordnungsnummern zu heiklen Personenprofilen verknüpfbar.

  • Diese mangelhafte Anonymisierung ist eine große Gefahr für informationelle Selbstbestimmung, Datenschutz und Datensicherheit. So entsteht für einen langen Zeitraum eine riesige, schwer kontrollierbare zentrale Datensammlung mit erheblichem Mißbrauchspotential, wie es allen großen Datenbanken eigen ist.

Wer das Ausfüllen der Fragebögen verweigert, riskiert ein Bußgeld von bis zu 5.000 Euro. Doch zumindest auf die rund 7,8 Millionen BezieherInnen von ALG II und RentnerInnen mit Bezügen unter der Pfändungsfreigrenze dürfte dies wenig Eindruck machen. Es darf auch heute an die Einschätzung des prominenten Unterstützers des Volkszählungs-Boykotts von 1987, Professor Hoimar von Ditfurth, erinnert werden: "Hier soll wohl ein ganzes Volk kollektiv gezwungen werden, übers Stöckchen zu hüpfen."

Daß die Volkszählung für die unteren Zweidrittel der Bevölkerung einen Nutzen hätte, darf angesichts dreier statistisch gesicherter Daten bezweifelt werden. Denn auch ohne Volkszählung steht fest, daß eine Mehrheit der Deutschen Atomenergie ablehnt, keine genmanipulierten Nahrungsmittel wünscht und sich für den Abbruch des Kriegseinsatzes in Afghanistan ausspricht. Dennoch ist kaum zu erwarten, daß "Schwarz-Rot-Grün-Gelb" nach der Volkszählung eine andere Politik verfolgt als zuvor.

 

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Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      Volkszählung "Zensus 2011"
      Die NPD will helfen (6.01.11)

      Volkszählungs-GegnerInnen
      legen Verfassungsbeschwerde ein (16.07.10)

      Daten-Krake ELENA eingefroren
      Moratorium für elektronischen Einkommensnachweis
      (6.07.10)

      google und Zensur
      Deutschland weit vorne (21.04.10)

      Internet-Sperren und Cecilia Malmström
      Unfähig zur Diskussion (15.04.10)

      Internet-Zensur nun aus Brüssel?
      Vorwand Kinderpornographie und erschreckende
      Ignoranz gegenüber Sachargumenten (29.03.10)

      Vorwurf gegen Postbank
      Waren Daten von KundInnen nicht geschützt? (26.10.09)

      Mielke geistert weiter durch deutsche Telefone
      Zahl der Abhör-Aktionen steigt dynamisch (23.09.09)

      Demo "Freiheit statt Angst" in Berlin
      20.000 gegen Überwachungswahn (13.09.09)

      'aspekte'-Sendung mit Kritik an Internet-Sperren-Gesetz
      Ex-Bundesverfassungsrichter Hoffmann-Riem
      äußert schwerwiegende Bedenken (1.08.09)

      Vorläufige Bilanz des Überwachungs-Skandals
      bei der Bahn
      Keine Beweise gegen Mehdorn (14.05.2009)

      Gegen politische Zensur des Internets
      Online-Petition gegen Internetsperre
      am ersten Tag mehr als 16.000 UnterzeichnerInnen
      (5.05.09)

      Datenschutz-Affaire bei Drogeriekette Müller?
      Systematische "Krankenrückkehrgespräche" (18.04.09)

      Mit Stop-Schild gegen Kinderpornos?
      Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur gegründet
      (17.04.09)

      Bahn-Datenaffäre: "Brandbeschleuniger"
      Mehdorn sorgt mit Briefwechsel für Eskalation (11.03.09)

      Bundesverfassungsgericht stoppt Wahl-Computer
      Die Manipulierbarkeit von
      elektronischen Speichersystemen,
      'Wikipedia' und Internet-Umfragen (3.03.2009)

      Aktionismus gegen Kinderpornographie
      zielt auf Zensur des Internets
      Im Visier ist das letzte Kommunikationsfeld
      für freie linke Nachrichten (1.02.09)

      ELENA - Eine gigantische Datenbank
      soll Angaben von 40 Millionen Beschäftigten umfassen
      (26.06.2008)

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      Meldedaten im Internet frei zugänglich (23.06.2008)

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      Staatsanwaltschaft ermittelt (24.05.2008)

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      (28.02.2008)

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