8.06.2014

Psychopharmaka
Deutsche schlucken immer mehr

Mothers little helper - Grafik: Samy
Berlin (LiZ). Aus offiziellen Zahlen der Bundesregierung geht hervor, daß sich die Zahl ambulant verordneter Psychopharmaka zwischen 2003 und 2012 von 1,27 Millionen Einheiten definierter Tages-Dosis auf 2,06 Millionen fast verdoppelt hat. Zu den verordneten verschreibungs­pflichtigen Psychopharmaka gehören unter anderem solche gegen Depressionen.

Zu einfach wäre es, diesen enorm gesteigerten Konsum an Psychopharmaka allein "psychischer Überlastung" zuzuschreiben. Die statistischen Daten sind zutage gekommen, nachdem die Linkspartei im Bundestag diese in einer Anfrage an die Bundesregierung angefordert hatte. Scheinbar der fragenden Intention entgegenkommend schrieb die Bundesregierung - so als sei sie etwa besorgt - in ihrer Antwort, die steigenden Diagnose-Zahlen und Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen seien zum Teil verursacht durch "steigende Flexibilitäts- und Leistungsanforderungen" aufgrund "veränderter komplexer Arbeitsbedingungen", aber möglicherweise auch durch eine erhöhte Sensibilität von ÄrztInnen und TherapeutInnen für entsprechende Krankheitsbilder.

Sicherlich hat Klaus Ernst, Fraktions-Vorsitzender der Linkspartei im Bundestag, nicht ganz unrecht, wenn er etwas plakativ sagt: "Stress im Job macht krank." Aber auch das Schlagwort von der "Überforderung und Überfrachtung" kratzt nur oberflächlich an den wirklichen Ursachen.

Der bekannte Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter sprach einmal in einem Interview von der "narkotisierten Gesellschaft" - angesichts existenzbedrohender Gefahren wie etwa den weltweit startbereit gehaltenen Atomwaffen. Allein die beiden Atomwaffen-"Supermächte" USA und Rußland verfügen immer noch über mehr als 15.000 Atomwaffen. Jede dieser Atomwaffen besitzt eine größere Zerstörungskraft als die Hiroshima-Bombe. Nach wie vor ließe sich die gesamte Menschheit Hunderte Male hintereinander töten, auferwecken, töten, auferwecken,...

Die Menschheit läßt es sich gefallen, daß die "Oberen Zehntausend", die auch die Regierungen lenken, diesen Irrsinn fortsetzen. Für Rüstung geben die Regierungen dieser Welt Jahr für Jahr Hunderte Milliarden Euro aus (Siehe unsere Artikel v. 18.03.14 und v. 31.12.09), während rund 50 Milliarden Euro ausreichen würden, um aller Kinder dieser Welt ein Jahr lang vor dem Verhungern zu bewahren.

Trotz der Atom-Katastrophen von Harrisburg (1979), Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) werden weltweit weiterhin Atomkraftwerke betrieben und die Menschheit läßt es sich gefallen, daß Regierungen von "Atom-Ausstieg" reden, aber stattdessen den Weiterbetrieb garantieren.

Horst Eberhard Richter bezog sich mit seinem Wort von der "narkotisierten Gesellschaft" also nicht etwa nur auf den Konsum legaler und illegaler Drogen, Psychopharmaka oder den erschreckenden Umfang von vier Stunden TV-Konsum pro Tag, sondern zugleich auf die resignative Haltung des "Wir können ja doch nichts ändern".

Denker wie Horst Eberhard Richter und Erich Fromm erkannten schon vor etlichen Jahren, daß diese "Narkotisierung" eine notwendige Folge und zugleich Bedingung ganz spezifischer Strukturen der "westlichen Kultur" ist.

Der Charakter der heutigen Menschen in den Industriestaaten ist wesentlich von den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen geformt, wie der Psychoanalytiker Erich Fromm in seinen Büchern beschrieben hat. Dennoch hat auch er die Menschen zu einer Umkehr aufgerufen, weil eben nicht nur die Gesellschaft den Menschen formt, sondern zugleich die Menschen die Gesellschaft umwandelt können - Menschen, die sich zugleich auf den Weg gemacht haben, sich selbst zu transformieren, bildhaft gesprochen: die bereits sind, umzukehren.

Bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen die Charakterzüge der Menschen in den "westlichen" Industriegesellschaften ein wachsendes Maß an Passivität und eine Orientierung an Werten, die vom Markt bestimmt sind. Die Menschen verhalten sich den größten Teil ihrer Freizeit passiv. Sie sind passive KonsumentInnen von alkoholischen Getränken, Speisen, Zigaretten, Vorträgen, Meinungen, Büchern und Filmen. Dies alles wird "geschluckt". Die Welt ist ein großes Objekt für einen unersättlichen Appetit. Der Mensch ist zum Säugling geworden, ewig voller Erwartungen - und ewig enttäuscht.

Und schon 1955 schrieb Erich Fromm: "Nehmen wir an, es gäbe in unserer westlichen Kultur einmal nur vier Wochen lang weder Kino noch Rundfunk noch Fernsehen, weder sportliche Veranstaltungen noch Zeitungen. Welche Folgen hätte dies für die Menschen, die auf sich selbst angewiesen wären, nachdem man ihnen diese Hauptfluchtwege verschlossen hätte? Ich zweifle nicht daran, daß es bereits innerhalb dieser kurzen Zeit zu tausenden von Nervenzusammenbrüchen käme und daß außerdem noch viele Tausende in einen Zustand akuter Angst gerieten, der sich nicht von dem Bild unterscheiden würde, das klinisch als »Neurose« diagnostiziert wird."

Den Mittelpunkt des kapitalistischen Wirtschaftssystems bildet der Markt. Er bestimmt über den Wert aller Waren und den Anteil jedes Einzelnen am Bruttosozialprodukt. Dieses BSP ist die oberste Gottheit, ohne deren Gedeihen und unaufhörliches Wachstum alles zusammenzubrechen droht. Die Menschen haben sich selbst in Waren verwandelt. Sie müssen sich nicht nur selbst auf dem Arbeitsmarkt feilbieten, sondern sie sind - wenn auch meist unbewußt - einem Persönlichkeitsmarkt ausgesetzt, dessen Wertmaßstäbe deutlich zutage treten, wenn es um den eigenen Wert auf sogenannten Partner-Börsen geht.

Das Selbstwertgefühl der Menschen in den kapitalistischen Ländern hängt ganz wesentlich von äußeren Faktoren ab: vom Erfolg, vom Urteil der anderen. Real spielen Kreativität, die Fähigkeit zur Liebe und zur Vernunft - entgegen dem, was nach außen hin oft gesagt und gepredigt wird - immer weniger eine Rolle. Daher sind die Menschen abhängig und suchen Sicherheit in der Konformität. Sie trauen sich immer weniger, sich auch nur zwei Schritte von der Herde zu entfernen. Die heutige Vielfalt unterschiedlicher Modeformen scheint auf den ersten Blick ein Zeichen großer Individualität zu sein, doch real ist sie nichts anderes, als ein großangelegter Betrug, der über die zwanghafte Konformität hinwegtäuschen soll.

Die Gesellschaftsform der heutigen "westlichen" Industriestaaten benötigt zum Funktionieren Menschen, die sich frei und unabhängig fühlen und glauben, keiner Autorität, keinen Normen und keinem Gewissen unterworfen zu sein - die aber dennoch reibungslos funktionieren, bereit sind, jede "Anweisung" auszuführen (das Wort Befehl ist weitestgehend verpönt), zu tun, was von ihnen erwartet wird und sich in die gesellschaftliche Maschine einzufügen. Zugleich ist der Geschmack weitestgehend genormt, leicht zu beeinflussen und vorherzusagen.

Benötigt werden heute Menschen, die sich ohne sichtbare Gewaltanwendung lenken lassen, ohne Führer geführt und ohne Ziele angetrieben werden können. Die Industrialisierung hat diesen Menschen geschaffen, den Automaten, den entfremdeten Menschen. Entfremdet in dem Sinne, daß ihm das eigene Handeln und die eigenen Kräfte zu etwas Fremdem geworden sind: Sie stehen über ihm und gegen ihn und beherrschen ihn. Seine Lebenskräfte haben sich in Dinge und Institutionen verwandelt, meßbar als Bruttosozialprodukt. Er erlebt sie nicht mehr als Ergebnis seiner eigenen Anstrengungen, sondern als etwas von ihm Getrenntes, das er anbetet und dem er sich unterwirft.

Der heutige Mensch hat keinen Anteil mehr an der Planung des Arbeitsvorganges, keinen Anteil an seinem Ergebnis, selten sieht er das fertige Produkt. Manager beschäftigen sich zwar mit dem fertigen Produkt, doch für sie ist es nichts mehr Konkretes, ihnen ist es als etwas Nützliches entfremdet. Ihr einziges Ziel ist es - auf Gedeih und Verderb - das investierte Kapital zu vermehren. Sobald die Profit-Rate im Vergleich zu Konkurrenten sinkt, sind sie weg vom Fenster. Die Ware verkörpert lediglich das Kapital, das andere investiert haben, als konkreter Gebrauchswert bedeutet sie nichts.

Erich Fromm zog die Schlußfolgerung: "Bei der Anwendung des Prinzips der gleichzeitigen Veränderung aller Lebensbereiche müssen wir die wirtschaftlichen und politischen Umwandlungen mit bedenken, die zur Überwindung der psychischen Entfremdung nötig sind. Wir dürfen die technischen Errungenschaften der maschinellen Produktion und der Automatisierung nicht aufgeben. Wir müssen aber Arbeit und Staat so dezentralisieren, daß sie menschliche Proportionen annehmen..."

Der zunehmende Konsum von Psychopharmaka ist nur die Spitze des Eisberges zunehmender psychischer Krankheit in einem kranken System. Während etwa isolierte politische Ziele - wie ein Atom-Ausstieg - auch zu erreichen sind, ohne die kapitalistischen Verhältnisse anzutasten, wird ein Phänomen wie die psychischen Deformation ganzer Gesellschaften selbst bei größten medizinischen Anstrengungen und gewerkschaftlich durchgesetzter Vorsorge am Arbeitsplatz nicht geheilt werden können. Die "gesunde Gesellschaft" wie sie ein Prophet wie Fromm entwarf, wird erst nach dem Ende des Kapitalismus zu realisieren sein.

 

LINKSZEITUNG

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      SIPRI-Report über Rüstungs-Exporte
      Deutschland weiter auf Platz 3 (18.03.14)

      190.000 Drogen-Tote pro Jahr
      Oder sind Alkohol und Nikotin keine Drogen? (22.04.14)

      Alkohol:
      74.000 Tote pro Jahr (28.06.10)

      Milliarden im Vergleich
      Militär-Ausgaben - Hunger - Umsatzzahlen (31.12.09)

      Kiffen kann Schizophernie verursachen
      Neue wissenschaftliche Ergebnisse (7.01.09)

      Wer verursachte 1988 die Lockerbie-Katastrophe?
      Zweifel an der Beteiligung des Libyers Ali al Megrahi
      (21.12.08)

      Heroin für die Welt
      Afghanistan bricht unter US-Protektorat alle Rekorde
      (30.11.07)

      Jugendalkoholismus, Existenzangst
      und Klimakatastrophe (26.10.07)

      Einbruch bei der Tabaksteuer
      ...maximal 7 Mrd. Euro
      80 Milliarden Euro wurden verschenkt (6.09.04)

      Cannabis: Schneller schwarze Lungen
      Kein April-Scherz (1.04.04)

      Tabak - Schlachten oder Melken? (27.05.03)