Gibt es eine SPD seit 150 Jahren?
Nein - Es gibt deren drei
Am 23. Mai 1863 wurde in Leipzig von Ferdinand Lassalle und anderen Sozialisten der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) gegründet, so daß dieser Tag zu recht als Gründungstermin der sozialdemokratischen Partei Nummer 1 in Deutschland gelten darf. 1869 gründeten August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). Und im Mai 1875 schlossen sich in Gotha der ADAV und die SDAP zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) zusammen. Diese schließlich 1890 in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) umgetaufte Partei existierte allerdings nur bis 1914.
In den gut 50 Jahren zwischen 1863 und 1914 war die SPD Nummer 1 zu einer Partei mit über einer Million Mitgliedern mit der zahlenmäßig stärksten Fraktion im Reichstag aufgestiegen. Zu den Zeiten von Karl Marx (1818 - 1883) und Ferdinand Lassalle (1825 - 1864) wußte das deutsche Proletariat noch um die Bedeutung der internationalen Solidarität und war sich seiner Gegnerschaft zur Klasse der Kapitalisten bewußt.
Die SPD stand den Gewerkschaften nahe und die weit überwiegende Mehrheit der Mitglieder war - ebenso wie die der meisten sozialdemokratischen Parteien Europas im 19. Jahrhundert - am revolutionären Marxismus ausgerichtet. Die Begriffe "sozialistisch" und "sozialdemokratisch" waren damals gleichbedeutend. Und obwohl die SPD zu jener Zeit nicht reformistisch orientiert war, konnten Reichskanzler Otto von Bismarck bedeutende soziale Verbesserungen abgerungen werden: 1883 die Krankenversicherung, die zunächst zu zwei Dritteln aus Beiträgen der Arbeiter finanziert wurde, 1884 die Unfallversicherung und 1889 die Invaliden- und Altersversicherung. Zum allgemeinen Bildungsstand des europäischen Proletariats gehörte damals auch die Erkenntnis, daß Krieg allein im Interesse des Kapitals lag und ihre Seite nur dabei verlieren konnte.
Die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg europaweit zu beobachtenden Kriegsvorbereitungen stießen auf den einhelligen Widerstand der Arbeiterbewegung. Die 'Sozialistische Internationale' konnte sich auf starke Arbeiterparteien in vielen europäischen Ländern stützen. Auf den Internationalen Sozialisten-Kongressen 1907 in Stuttgart und 1912 in Basel hatte die SPD noch eine führende Rolle gespielt und die europäischen Arbeiter zum Widerstand gegen den nahenden Krieg aufgerufen.
Doch zugleich machte sich im beginnenden 20. Jahrhundert eine Schicht von Bürokraten und Parteifunktionären in der SPD breit, die längst ihren "Frieden" mit den Herrschenden geschlossen hatten. Zu ihren Protagonisten zählte Friedrich Ebert, der nach dem Tod August Bebels im Jahr 1913 den Parteivorsitz zusammen mit Hugo Haase übernehmen konnte.
Der 'Vorwärts', die große Parteizeitung der SPD, druckte noch am 25. Juli 1914 einen Appell, der mit den Worten schloß: "Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die Euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muß den Gewalthabern in den Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!" Bis in den Juli fanden in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern etliche Massendemonstrationen gegen den sich abzeichnenden Krieg statt.
Doch dann gelang es der Regierung Bethmann Hollweg, "die Sozialdemokraten ins Boot" zu holen. Dies war entscheidend für die Möglichkeit, einen Krieg zu führen. Die Führungsschicht der SPD schwenkte bis auf wenige Ausnahmen unter der Führung von Ebert um und die SPD-Fraktion im Deutschen Reichstag stimmte am 4. August 1914 den Kriegskrediten zu. Dies war de facto die Zustimmung zu dem vom deutschen Kapital gewollten Krieg. Der Widerstand des deutschen Proletariats konnte so gebrochen und eine Revolution verhindert werden.
Rosa Luxemburg, neben Karl Liebknecht eine der wenigen konsequenten KriegsgegnerInnen in der Führung der SPD, verglich die SPD nach dem Jahr 1914 mit einem stinkenden Leichnam. (Siehe unseren Artikel v. 4.08.04)
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Friedrich Ebert mit dem Amt des Reichspräsidenten belohnt. Die dann als SPD firmierende Partei hatte sich mit dem Kapitalismus arrangiert und der Revolution abgeschworen. In Konkurrenz zur SPD Nummer 2 entstand als Folge der Spaltung von 1914 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Der Reformismus der SPD zeitigte während der Weimarer Republik gewisse Erfolge und zwischen Proletariat und Oberschicht entstanden mehr oder weniger stabile Mittelschichten mit eigenen ökonomischen Interessen. 1918 wurde der Acht-Stunden-Tag eingeführt und 1927 die Arbeitslosenversicherung.
1932 urteilte Kurt Tucholsky über jene SPD: "Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleineren Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas – vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahingegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen."
Während sich die KPD fataler Weise am Beispiel der zu einer Diktatur verkommenen Sowjetunion Lenins und Stalins orientierte und aus Moskau weitgehend ferngesteuert wurde, verlor auch die SPD beim Proletariat an Ansehen und Glaubwürdigkeit und ihr Stimmenanteil sank in der Zeit der Weimarer Republik zwischen 1919 und 1933 von 37,9 Prozent auf 18,3 Prozent. Zwischen 1928 und 1932 konnte die KPD ihren Stimmenanteil von 10,6 Prozent stetig bis auf 16,9 Prozent erhöhen. In der Summe jedoch verloren die beiden Parteien von Wahl zu Wahl Stimmen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien zunächst selbst die neugegründete CDU als antikapitalistisch. So ist etwa im Ahlener Programm der CDU von 1947 zu lesen: "Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein."
In der Folge existierten in Deutschland in verschiedener Aufmachung mit SPD und CDU/CSU zwei "sozialdemokratische Parteien", deren Funktion darin bestand, die zwischen Kapital und Arbeit in Verhandlungen und gelegentlichen Streiks ermittelten Kräfteverhältnisse in Gesetzesform zu gießen. Bis in die 1970er-Jahre konnten so einige Erfolge für die unteren Schichten verzeichnet werden: 1956 die 45-Stunden-Woche, 1957 eine Rentenreform, mit der die dynamische Rente eingeführt wurde (damals bedeutete das Wort "Reform" noch eine soziale Verbesserung), 1961 das Bundessozialhilfegesetz, 1969 das Gesetz über Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, 1971 wurde das BAFöG eingeführt und 1972 die flexible Altersgrenze (auch dies, anders als der Begriff "flexibel" heute vermuten läßt, ein sozialer Fortschritt). Doch anders als die Parteien dies gerne darstellen, beruhten diese Fortschritte auf der Macht der Gewerkschaften, auf den Produktivitätssteigerungen und auf der Ausbeutung der "Dritten Welt".
Der gerne von der Parteien-Politik als eigenes Verdienst reklamierte soziale Fortschritt dieser Jahre hinderte die SPD Nummer 2 nicht daran, unter einem heute nostalgisch als Linker verklärten Bundeskanzler Willy Brandt mit Berufsverboten das politische Klima in Deutschland zu vergiften. Mit dem Slogan "Mehr Demokratie wagen" hatte er 1969 als Kanzler-Kandidat große Hoffnungen geweckt. Am 28. Januar 1972 beschloß Brandt in einer selten so unverstellt dargebotenen Einheitsfront mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer den sogenannten Radikalen-Erlaß. Vermeintliche KommunistInnen und alle, die vom "Verfassungsschutz" als solche abgestempelt wurden, verfolgte die"sozial-liberale" Bundesregierung in den 1970er-Jahren mit einer Härte, die in vielen anderen europäischen Ländern bis in konservative Kreise ein Schaudern verursachte. Nicht umsonst ging der Begriff "Berufsverbot" als geläufiges Fremdwort in den Wortschatz der meisten europäischen Sprachen ein. Einfache Briefträger oder Lokführer wurden verfolgt, LeherInnen mit inquisitions-ähnlichen Verfahren gequält und auf die Straße gesetzt, ganze LehrerInnen-Generationen zur Ableistung formelhafter "fdGO"-Demutsfloskeln genötigt und durch jahrelange Bespitzelung einer scheibchenweisen Amputation des Rückgrades unterzogen. In Deutschland verbreitete sich in den 1970er Jahren eine gesellschaftliche Atmosphäre des Duckmäusertums. Hinzu kam die innere Aufrüstung des Staates, für die der Terror von RAF und anderer winzigen Gruppierungen wie der "Bewegung 2. Juni", die sich auf den Tod der Berliner Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bezog, einen Vorwand lieferte.
Doch erst nach Ende der 16-jährigen "schwarz-gelben" Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl transformierte Gerhard Schröder ab 1998 die SPD in eine neo-liberale Partei. Diese SPD Nummer 3 ermöglichte einen bis dahin nicht für möglich gehaltenen Sozial-Abbau mit Hilfe der Hartz-Gesetze, die erstmalige Beteiligung Deutschlands an Kriegen nach 1945: 1999 Kosovo-Krieg und 2001 Beginn des Afghanistan-Kriegs. Auch die Anti-AKW-Bewegung konnte mit der Verkündung eines Atomausstiegs weitgehend in die Defensive gedrängt werden. Diese Täuschung gelang mit Beteiligung der Pseudo-Grünen, die bereits 1990 die bei ihrer Gründung im Jahr 1979 festgelegten Grundsätze über Bord geworfen hatten.
Warum sowohl der erste Kriegseinsatz Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg als auch der ungebremste Sozial-Abbau ausgerechnet unter einer "rot-grünen" Regierung stattfinden mußte, erklärte recht ungeniert der frühere Chef der Aufsichtsräte von DaimlerChrysler und Deutscher Bank, Hilmar Kopper, im 'Hamburger Abendblatt' am 4. November 1999: "Und es konnte nur von der rot-grünen Regierung kommen, sonst hätten wir in diesem Land eine Revolution gehabt. Ähnliches gilt wohl auch für die Veränderung des Sozialstaates. Wahrscheinlich müssen die heiligen Kühe von denen geschlachtet werden, die an ihrer Aufzucht am aktivsten beteiligt waren."
Manche hatten erwartet, daß diese SPD Nummer 3 wenigstens aus Imagegründen rechtzeitig vor dem Bundestagswahlkampf 2013 auf Distanz zu Schröders "Reform des Sozialstaates" gehen würde. Doch mit Peer Steinbrück hat sie einen Schröder-Adepten auf den Schild des Kanzlerkandidaten gehoben, der für das Kapital die Gewähr bietet, die gewünschte Politik fortzusetzen. Steinbrück hatte schon als Finanzminister unter Kanzlerin Angela Merkel im Jahr 2006 dafür gesorgt, daß ganze Passagen wortwörtlich aus einem Text des Verbandes deutscher Banken in Gesetzestexte übernommen wurden und so besondere Möglichkeiten bei der Erstattung von Kapitalertragsteuern geradezu zur Steuerhinterziehung einladen. Und noch im Januar 2012 hat Steinbrück als Aufsichtsrat von ThyssenKrupp offenbar mit politischer Einflußnahme dafür gesorgt, daß der Konzern mit einem Strompreis-Nachlaß bedacht wurde.
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Steinbrück für höhere Strompreise
Der "rote" Lobbyist für ThyssenKrupp (8.01.13)
Witz der Woche
Steinbrücks heimliche Ghostwriter (12.12.12)
Berufsverbote
1972: Willy Brandt - 2004: Annette Schavan (28.01.12)
60 Jahre Unrechts-Staat BRD
(23.05.09)
SPD mit Tempo 130
in die Linkskurve? (30.10.07)
Thema Mindestlohn im Bundestag
Von einem Versuch, die SPD zu stellen (14.05.07)
Lafontaines Sprung aus dem Tanker
Vereinigung von WASG und PDS unter seiner Führung?
(24.05.05)
SPD benötigt Minderheitenschutz
Historischer Tiefststand (9.04.05)
Der Leichnam stinkt seit 90 Jahren
Am 4. August 1914 stimmte die SPD für Krieg (4.08.04)
Klaus Uwe Benneter
Das Auftauchen eines realexistierenden Linken in der SPD
(9.02.04)