Berlin (LiZ). Nur wenige Tage nachdem die "schwarz-gelbe" Koalition bekannt gab, daß sie das von Ministerin Ursula von der Leyen gestartete und angeblich gegen Kinderpornographie gerichtete "Zugangs- erschwerungsgesetz" aufhebt, wird ein neuer Angiff auf die Informations- und Medienfreiheit im Internet gestartet: In dem geheimen Entwurf des Staatsvertrages zu Glücksspielen ist erneut eine Infrastruktur vorgesehen, die Möglichkeiten zur politischen Zensur des Internet eröffnet.
Der dem Chaos Computer Club (CCC) zugespielte Entwurf des Staatsvertrages läßt erkennen, daß die Ministerpräsidenten der Bundesländer und die dahinter stehenden Inlands-Geheimdienste erneut über die Einführung von Internetsperren nachdenken. Daher warnen der Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur (AK Zensur) und der CCC vor dem neuen Glücksspiel-Staatsvertrag. Dieser wird zur Zeit abseits der Öffentlichkeit zwischen Bundesregierung und Landesregierungen verhandelt. Der AK Zensur fordert die MinisterpräsidentInnen der Länder auf, umgehend den Stand der Verhandlungen offenzulegen und die Zivilgesellschaft zu beteiligen.
"Wir erleben hier einen weiteren Versuch, eine Zensur-Infrastruktur in Deutschland aufzubauen. Diesmal kommt er unter dem Deckmäntelchen der Prävention von Glücksspielsucht,“ erklärt Benjamin Stöcker, Mitglied im AK Zensur. "Damit wird dem freien Zugang zu Informationen im Netz der Kampf angesagt. Dabei dachten wir, die Politik hätte aus den Debakeln beim Jugendmedienschutzstaatsvertrag und dem Zugangserschwerungsgesetz gelernt.“
Der CCC veröffentlichte am Wochenende den ihm zugespielten Entwurf eines "Staatsvertrages zur Änderung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland". Paragraph 9 Absatz 1 Nummer 5 Satz 1 dieses Entwurfs birgt unter der scheinbar harmlosen Oberfläche Sprengstoff. Dort heißt es, die Glücksspielaufsicht könne "Diensteanbietern im Sinne des Telemediengesetzes (...) die verantwortliche Mitwirkung am Zugang zu den unerlaubten Glücksspielangeboten untersagen". Dieser Satz 1, so der Entwurf weiter, könne das in Artikel 10 des Grundgesetzes geschützte Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses legal einschränken.
Aus der Sicht der Datenschutz-AktivistInnen von CCC und AK Zensur ist diese Formulierung "ein weiterer Versuch, eine Zensur-Infrastruktur in Deutschland aufzubauen". Bezeichnend ist, daß auch Landesregierungen, an denen Linkspartei und Pseudo-Grüne beteiligt sind, bereits ihr Einverständnis zum Glücksspiel-Staatsvertrag erklärt haben - wie aus einer vergangene Woche von von der Staatskanzlei Sachsen-Anhalt verschickten Pressemitteilung hervorgeht. Ledglich die schleswig-holsteinische Landesregierung soll Bedenken gegen den vorliegenden Entwurf geltend gemacht haben. Doch der "schwarz-gelben" Landesregierung unter Ministerpräsident Peter Harry Carstensen geht es dem Vernehmen nach nicht etwa um Freiheitsrechte, sondern um die Zahl der Lizenzen, die ausländischen Glücksspielunternehmen erteilt werden könnte.
Der AK Zensur und der Medien-Aktivist Alvar Freude monieren, daß aus dem Vertragsentwurf nicht hervorgeht, welche Sperrtechnik diesmal vorgesehen ist. Sie erachten daher die Beteiligung der Öffentlichkeit um so dringlicher und kritisieren die geheimen "Kungelrunden" der RegierungsvertreterInnen. Vorgeblich seien die Zensur-Maßnahmen diesmal darauf ausgerichtet, Deutsche daran zu hindern, bei ausländischen Glücksspiel-Anbietern Wetten zu platzieren. Befürchtet wird allerdings, daß die geplanten Eingriffe diesmal noch über die im "Zugangserschwerungsgesetz" vorgesehenen Stop-Schilder hinausgehen und beispielsweise auf eine Überwachung des gesamten Netzverkehrs via Deep Packet Inspection abzielen.
CCC-Sprecher Dirk Engling kritisiert den im Entwurf des Glücksspiel-Staatsvertrages versteckten Text als "Zensur-Tretmine", die offenbar so formuliert sei, daß sie bei Veröffentlichung kaum Aufmerksamkeit erregen soll. Engling zeigt sich enttäuscht, daß "nach den monatelangen Debatten über Netzsperren und dem politischen Scheitern dieser technisch kontraproduktiven und die Demokratie gefährdenden Maßnahmen (...) offenbar noch immer kein Umdenken in den Staatskanzleien der Länder eingesetzt" habe. "Stattdessen legt die Politik eine erstaunliche Lernresistenz an den Tag." Die Netz-AktivistInnen rufen zum Widerstand auf.
Anmerkungen
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