Big Brother wächst
Bundesrat macht Weg frei für Überwachungs-Staat
Berlin (LiZ). Der Bundestag gab den Weg frei für das novellierte Telekommunikationsgesetz (TKG), das die Möglichkeiten der Bespitzelung in bislang ungekannte Dimensionen erweitert. BürgerrechtlerInnen kritisieren den Eingriff in die Privatsphäre der NutzerInnen und wollen erneut vors Bundesverfassungsgericht ziehen.
Heute (Freitag) stimmte der Bundesrat ohne Aussprache der von der Bundesregierung vorgelegten Novelle des TKG zu. Das Gesetz soll am 1. Juli in Kraft treten. Darin werden Polizei und Geheimdiensten weitreichende Befugnisse zugebilligt und der Zugriff auf Daten von Mobil-Telefonen und Internet-Verbindungen erlaubt. Viele GegnerInnen dieser gigantischen Reduzierung bürgerlicher Grundrechte haben bereits angekündigt, erneut vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.
Konkret wird es mit dem neuen TKG Polizei und Geheimdiensten ermöglicht, die Identität von Handy-BesitzerInnen und Internet-NutzerInnen hinter der Telefonnummer oder der IP-Adresse des Computers bei den Providern zu ermitteln. Für Daten wie Name, Adresse, Geburtsdatum und Gerätenummer ist nicht einmal ein richterlicher Beschluß (sogenannter "Richtervorbehalt") nötig. Mit richterlicher Zustimmung können die staatlichen Schnüffler auch Zugangssicherungscodes, also PIN - und PUK-Nummern abfragen. Geschieht dies, müssen die Betroffenen jedoch - laut dem Buchstaben des Gesetzes - benachrichtigt werden. Da die Betroffenen jedoch keine Möglichkeit besitzen, eine Überwachung nachträglich zu beweisen, ist die Umgehung dieser Bestimmung nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre als Regelfall zu erwarten.
Mit der Änderung des TKG reagiert die Bundesregierung auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2012. Damals entschieden die RichterInnen, daß der Gesetzgeber die Voraussetzungen für den Zugriff von Ermittlungsbehörden auf Nutzerdaten, Passwörter und PIN-Codes neu regeln muß, da die bisherige Praxis gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verstoße. Die Karlsruher RichterInnen verlangten auch eine präzisere Formulierung der Bestimmungen im TKG, erklärten den Zugriff auf die Provider-Daten aber grundsätzlich für zulässig.
Nach dem Buchstaben des derzeit noch gültigen TKG dürfen Polizei und Geheimdienste Bestandsdaten nur bei der Verfolgung von Straftaten abfragen. Bei der Neuregelung reichen schon einfache Ordnungswidrigkeiten für den Zugriff auf die persönlichen Daten aus. Als Ordnungswidrigkeiten zählen beispielsweise Falschparken, Verletzung der Meldepflicht, der Impressums-Pflicht oder auch Ruhestörung. Zusätzlich erlaubt die Neuregelung Massenabfragen bei Internetprovidern und das BKA soll als Zentralstelle für Ermittlungen dienen.
In einer gemeinsamen Erklärung forderten neun Organisationen den Bundesrat auf, das Gesetz zu stoppen und im Vermittlungsausschuss grundlegend zu überarbeiten. Auf dem Spiel stehe die Vertraulichkeit und Anonymität der Internetnutzung. In bestimmten Bereichen wie der medizinischen, psychologischen oder juristischen Beratung seien die BürgerInnen ebenso auf den Schutz von Anonymität angewiesen wie JournalistInnen, WhistleblowerInnen oder politische AktivistInnen. Zu den UnterzeichnerInnen gehören unter anderem der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, die JournalistInnen-Gewerkschaften DJV und dju/ver.di und die Organisation 'Reporter ohne Grenzen'.
Die Gesellschaft für Informatik kritisiert, daß mit dem neuen TKG das Telekommunikations-Geheimnis nicht nur im Kern ausgehöhlt, sondern auch das Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme massiv verletzt werde. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar erachtet im Falle von Auskünften über InhaberInnen von IP-Adressen die rechtliche Hürde einer "Richtervorbehalts" als geboten.
Anmerkungen
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