Berlin (LiZ). Statt pauschal alle TeilnehmerInnen an Pegida-Demonstrationen als "Schande für Deutschland" (Heiko Maas) abzukanzeln oder gar in die braune Ecke zu stellen, regt der 'Mediendienst Integration' dazu an, mit einem Fakten-Check die Diskussion zu suchen.
Vielfach beruht die Angst der "patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" schlicht auf falschen Informationen und Vorurteilen. So antwortete beispielsweise eine junge Demonstrantin auf einer Pegida-Demonstration auf eine entsprechende Frage eines Journalisten, alle Asyl-BewerberInnen, die nicht politisch verfolgt würden, "sollten vielleicht doch" Deutschland verlassen müssen. Sie offenbarte damit unfreiwillig ihre Unkenntnis der Gesetzeslage. Weitgehend unbekannt ist heute in Deutschland auch, daß seit der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl im Jahr 1993 - durch die "schwarz-gelbe" Bundesregierung in Zusammenarbeit mit der formal als Opposition agierenden SPD - Asylsuchende kaum mehr eine Chance haben, überhaupt deutsches Territorium zu erreichen.
Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel - wie vor wenigen Tagen in ihrer Neujahrsansprache an die Nation - vor Pegida warnt und dabei ein Herz für Flüchtlinge heuchelt, darf an die mörderischen EU-Außengrenzen erinnert werden. Merkel, Maas und Schäuble geht es keineswegs um Menschlichkeit, sondern allein darum, für die hiesige Wirtschaft geeignete und hochqualifizierte Arbeitskräfte aus anderen Ländern abzuwerben. Insofern ist der "schwarz-rot-gelb-grüne" Neoliberalismus tatsächlich anti-rassistisch.
Wenn die Aufmerksamkeit für Pegida dazu beiträgt, gemeinsam etwa mit dem 'Mediendienst Integration' gängigen Vorurteilen in großen Teilen der deutschen Bevölkerung entgegenzuwirken, ist das durchaus positiv. Wirksam kann es allerdings nur dann werden, wenn nicht ausgegrenzt und abgekanzelt, sondern diskutiert wird - auf der so häufig strapazierten "gleichen Augenhöhe".
Konkret fürchten viele Pegida-DemonstrantInnen eine "Islamisierung" Europas. Fakt ist allerdings, daß rund 70 Prozent der Deutschen die Zahl der hierzulande lebenden Muslime überschätzen. Das ergab im Jahr 2014 eine Befragung des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Ein knappes Drittel der Befragten schätzt ihre Zahl auf mehr als zehn Millionen. Tatsächlich leben in Deutschland weniger als 5 Millionen Muslime.
Beklagt wird auch häufig eine "Integrations-Unwilligkeit". Ein Lagebericht der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung zeigt allerdings, daß es in den vergangenen zehn Jahren eindeutige Bildungsfortschritte bei den Nachkommen von EinwanderInnen gab. So stieg unter diesen etwa die Zahl der AbiturientInnen prozentual an und die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluß sank. Die meisten MigrantInnen sprechen gut oder sehr gut deutsch, wenn sie einige Jahre in Deutschland gelebt haben.
Das Klischee, AusländerInnen belasteten die deutschen Sozialkassen widerlegt eine Studie im Auftrag der neoliberalen Bertelsmann Stiftung von 2014. Demnach erwirtschaften die rund 6,6 Millionen AusländerInnen in Deutschland einen finanziellen Überschuß von insgesamt 22 Milliarden Euro im Staatshaushalt.
Und auch die Ängste in Bezug auf Straftaten durch AusländerInnen sind weitgehend unbegründet. In einem Gutachten für den 'Mediendienst Integration' kam der Rechtswissenschaftler Christian Walburg zu dem Ergebnis, daß es keine wissenschaftlichen Belege für einen kausalen Zusammenhang von Migrationshintergrund und der Anzahl oder Schwere von Straftaten gibt. Studien zeigten keine grundsätzlichen Unterschiede im kriminellen Verhalten zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund auf.
Schon die schrägen Thesen des früheren "rot-roten" Berliner Finanzsenators und Schaumschlägers Thilo Sarrazin, die in dessen Buch "Deutschland schafft sich ab" millionen-fach verbreitet wurden, konnten vor vier Jahren anhand der Fakten leicht widerlegt werden (Siehe unseren Artikel v. 12.01.11). Doch damals schienen die Mainstream-Medien es vornehmlich als ihre Aufgabe zu betrachten, den Sarrazin-Thesen einen Resonanzboden zu verleihen. Mittlerweile scheint dieselbe "Elite", die Geister, die sie rief und die sich anscheinend in zu vielen Köpfen einnisteten, zu fürchten.
Denn während heute überraschend ein Wolfgang Schäuble in Deutschland meistverkauftem Toilettenpapier davon doziert, wie sehr Deutschland der Zuwanderung bedürfe, erinnert sich doch so Mancher an die entgegengesetzte Hetze vor nicht wenigen Jahren. Lustvoll zitierte etwa Lutz Bachmann in seiner Rede auf der Pegida-Demo am 22. Dezember in Dresden eine absurde Behauptung Horst Seehofers aus dem Jahre 2010: "Wir sind kein Zuwanderungsland" – womit Seehofer nur eine ebenso falsche Äußerung Helmut Kohls aus dem Jahre 2001 zitierte. Auch an eine wilde Kampfansage Angela Merkels von 2010 erinnerte er: "Multikulti ist total gescheitert." Die Deutschen sind nicht ganz so dumm, wie viele Parteien-PolitikerInnen sie gerne hätten.
Was viele Deutsche aber nicht so schnell nachvollziehen konnten, war, daß etlich Parteien-PolitikerInnen - dem neoliberalen "Zeitgeist" folgend - in den vergangenen Jahren still und heimlich die populistischen Parolen eingemottet haben. Eine große Zahl der Pegida-DemonstrantInnen fühlt sich daher - völlig zu recht - von den einstigen politischen RepräsentantInnen verraten und verkauft. Kein Wunder, daß sie - von rechter Warte aus betrachtet - die gegenwärtige Bundesregierung nicht von "Rot-Grün" unterscheiden können. Und in einer wesentlichen Hinsicht unterscheidet sich die derzeitige Bundesregierung auch nicht von ihren wie auch immer gefärbten Vorgängerinnen: Die Flüchtlinge aus Afrika oder aus Syrien läßt sie nach wie vor ohne jede Skrupel massenhaft im Mittelmeer ertrinken oder auf Transitwegen in der Sahara verdursten.
Der Kölner Kardinal Reinhard Maria Woelki wies immerhin in seiner Stellungnahme zu Pegida in einem Nebensatz auf den entscheidenden Punkt hin: Zur Wahrheit gehöre, daß Deutschland am Waffenexport verdiene - und "wir wundern uns dann, wenn einige Opfer von Gewalt an unsere Tür klopfen." Fakt ist - und darauf wies der damalige UN-Sonderberichterstatter Jean Ziegler schon vor neun Jahren deutlich hin (Siehe unsere Artikel v. 21.10.05, v. 5.01.06 und v. 17.10.12): "Der Süden finanziert den Norden und insbesondere die herrschenden Klassen der nördlichen Länder. Das wirksamste Mittel des Nordens zur Herrschaft über den Süden ist heute der Schuldendienst. Der Kapitalstrom von Süden nach Norden ist überschüssig im Vergleich zum Kapitalfluß von Norden nach Süden. Die armen Länder zahlen den herrschenden Klassen der reichen Länder jährlich viel mehr Geld, als sie von ihnen in Gestalt von Investitionen, Kooperationskrediten, humanitärer Hilfe oder sogenannter Entwicklungshilfe erhalten."
Und in einem Interview sagte Ziegler unmißverständlich: "Warum fliehen die Menschen? Warum nehmen Bauern aus dem über 3.000 Kilometer entfernten Kongo-Becken, Sahel-Hirten aus Niger, Baumwollpflanzer aus Nordbenin die oft monatelange, kostspielige und lebensgefährliche Reise zum Mittelmeer auf sich? Warum kratzen hunderte bitterarme Dorfgemeinschaften in Mali ihre letzten Francs CVA zusammen, um einen, zwei, drei ihrer Jungen in Richtung Norden zu schicken? Weil das Eldorado Europa die letzte Hoffnung von Millionen und Abermillionen verzweifelter Menschen darstellt." In seinem Buch 'Das Imperium der Schande' beschreibt er, wie multinationale Konzerne als die neuen Kolonialherren, die "Massenvernichtungswaffen" Hunger und Verschuldung einsetzen.
Doch wenn diese Erkenntnis sich verbreitet, werden die Menschen, die heute auf Pegida-Demonstrationen gehen, nicht mehr danach trachten, Muslime oder AsylbewerberInnen aus Deutschland hinauszuwerfen - der Zorn wird sich dann gegen Menschen wie Martin Winterkorn, Dieter Zetsche, Heinrich Hiesinger, Martin Blessing, Johannes Teyssen, Peter Terium und andere Mächtige richten.
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Aktion gegen Festung Europa
Mit dem Bolzenschneider zur EU-Mauer (3.11.14)
NRW: Mißhandlungen von Asylsuchenden
Polizeigewerkschaft beklagt Staatsversagen (29.09.14)
Festung Europa
Massenmord im Mittelmeer (15.09.14)
Festung Europa
Flüchtlinge aus Niger in Sahara verdurstet (31.10.13)
Mord an Flüchtlingen
Barroso auf Lampedusa ausgebuht (9.10.13)
Festung Europa
Über 60 Flüchtlinge ermordet (3.10.13)
Festung Europa
Tödliche Mauer am Bosporus (11.12.12)
Hunger und Kapitalismus
"Der Süden finanziert den Norden" (17.10.12)
Festung Europa
Die NATO und der Tod von 63 Bootsflüchtlingen (5.04.12)
Statistik widerlegt Sarrazin-Thesen
Lohnt die Auseinandersetzung? (12.01.11)
Festung Europa
Bollwerk am Bosporus geplant (1.01.11)
Festung Europa
Grenzregime am Bosporus verstärkt (2.11.10)
Festung Europa
Libyen als EU-Grenzposten (29.06.09)
Berlusconi: Besser in Afrika verhungern
als in Italien interniert (20.05.09)
Verfahren gegen Lebensretter in Italien
Stefan Schmidt und Elias Bierdel von 'Cap Anamur'
vor Gericht (17.05.09)
Italien schiebt afrikanische MigrantInnen ab
Proteste zum Teil scheinheilig (9.05.09)
Festung Europa: Mehr als 300 Flüchtlinge
im Mittelmeer ertrunken (31.03.09)
Ausbeutung durch die Industrie-Nationen
Eine Nahaufnahme aus Burkina Faso (11.03.09)
Weitere Proteste auf Lampedusa
Italiens Asylpolitik unverändert unmenschlich (18.02.09)
Weiter Demonstrationen auf Lampedusa
gegen europäische Abschottungs-Politik (28.01.09)
Protest gegen Festung Europa
MigrantInnen auf Lampedusa demonstrieren
gegen Lager-Bedingungen (24.01.09)
Positive Wende in Australien:
Ende der menschenverachtenden Asylpolitik (28.07.08)
Festung Europa
Menschenverachtende Politik gegen Flüchtlinge (20.06.08)
Flüchtlingselend und Artenschwund in Nordafrika
Führt Tierschutz zu mehr Menschenschutz? (22.01.08)
Frontex und die toten Flüchtlinge
Immer mehr Leichen im Mittelmeer (25.12.07)
Europa, schäme dich!
Flüchtlingselend im Mittelmeer (28.05.07)
"Konzerne eignen sich die Welt an"
Interview mit Jean Ziegler (5.01.06)
Eine mörderische Weltordnung
Ceuta und Melilla (21.10.05)
ai: "deutsche Asylpolitik verantwortungslos"
(25.05.05)
Festung Europa fordert Tote
Mehr Leichen als Krabben in den Netzen (26.03.05)
Tag des Flüchtlings 2004:
Europa macht dicht! (30.09.04)
Menschenverachtender Umgang
mit Flüchtlingen beim FdAaF-Bundesamt (3.06.04)
Zuwanderungsgesetz
oder Abschottungsgesetz? (27.05.04)
Nach wie vor werden in Deutschland
Kinderrechte mit Füßen getreten (16.01.04)
60 Tote infolge europäischer Unchristlichkeit (22.12.03)
Sind Sie darauf stolz, Herr Schily? (13.01.03)
Europa hat eine Verantwortung (11.10.00)