17.04.2012

Piraten entern ein morsches Schiff

Gastbeitrag von Rüdiger Rauls

Piraten entern ein morsches Schiff Nach den jüngsten Umfragen erhalten die Piraten bis zu 13 Prozent der Stimmen. Ihr Potential ist sogar noch viel höher. Dabei weiß man eigentlich nicht so recht, wofür sie stehen, außer daß sie sich für Netzsicherheit und -freiheit einsetzen und irgendwas mit dem öffentlichen Nahverkehr im Programm haben. Zudem stellen sie in Aussicht, Politik transparenter zu machen, was ja auch die Grünen schon vorhatten, die Linken auch. Und vor jeder Wahl versprechen das auch die Politiker der etablierten Parteien oder die Jungen Wilden ihrer Jugendabteilungen.

Eigentlich hatte jeder, der neu ist im Parlament, geglaubt, frischen Wind reinbringen zu müssen und zu können in diese Strukturen, die vielleicht verfestigt sind, aber immerhin das Ergebnis von Entscheidungen von Jahrzehnten. Sie haben sich auch im Interesse der bestehenden Gesellschaft als sinnvoll erwiesen. Nicht zuletzt deshalb haben es alle neu angetretenen Himmelsstürmer nicht geschafft umzukrempeln, was sie sich zur Aufgabe gesetzt hatten. Umgekrempelt wurden nur sie selbst, wie Grüne und Linke zeigen.

Dabei haben die Piraten aber – ganz staatstragend – schon erklärt, daß sie sich an die Spielregeln des parlamentarischen Betriebs halten werden. Auch Geheimnisse sind bei ihnen gut aufgehoben. Wo und wie wollen sie dann noch mehr Transparenz liefern als die anderen Parteien, die sich denselben Regeln unterwerfen?

Die innere Schwäche der Piratenpartei, die für nichts steht, haben die anderen auch schon erkannt und blasen zum Sturm. Von allen Seiten werden sie unter Beschuß genommen. Sexismus-Vorwürfe und keine ausreichende Frauen-Repräsentanz sähen den Keim der Sonderinteressen. Von außen erzwungene Erklärungen zersetzen die scheinbare Einheit.

Was erst sympathisch daherkam, daß sie zu vielen politischen Fragen noch gar keinen Standpunkt haben, wird nicht nur zum Anlaß genommen, sie der Lächerlichkeit preiszugeben. Das zwingt auch, Stellung zu beziehen, und führt dadurch zu Auseinandersetzungen. Eigentlich bestand die Geschlossenheit dieser Partei darin, zu vielen strittigen Themen keine Standpunkte zu haben. Das bewahrte sie vor Konflikten und vor der Erkenntnis von Wählern und Mitgliedern, daß die Piraten nicht das sind, was sie von ihnen erwarten. Die Attraktivität dieser Partei liegt in ihrer mangelnden Aussagekraft, die sich alles offen hält und dadurch niemanden verprellt. Von allen Parteien ist sie diejenige, deren Vorstellung vom Funktionieren der Gesellschaft am weitesten entfernt ist von der Wirklichkeit unserer Gesellschaft. Sie ist eine Partei ohne Weltbild. Sie ist nicht politisch, auch wenn sie sich mit politischen Themen beschäftigt.

Die Saarland-Wahl und die aktuellen Umfrageergebnisse lassen damit rechnen, daß die Piraten keine Eintagsfliege bleiben werden, sondern vielmehr ihre Attraktivität scheinen ausbauen zu können. Denn nicht nur, daß sie Wähler den etablierten Parteien abziehen, sondern seit ihrem Erscheinen in der Parteienlandschaft aktivieren sie wieder Menschen, die sich nicht mehr an den Wahlen beteiligt hatten. Durch sie wird die repräsentative Demokratie wieder belebt, die aktuelle Staatsform erhält eine Frischzellenkur.

Die Piraten entwickeln sich von einer "Truppe gescheiter, aber öffentlichkeitsuntauglicher Leute" (FAZ: 'Piraten der Parteienlandschaft'), zu einer Kraft, die integrierend wirkt. Ein Teil der Politikverdrossenen wählt sie aus Protest, um den Etablierten ihre Enttäuschung und Verbitterung darüber zum Ausdruck zu bringen, daß Politik nicht nach ihren Wünschen gemacht wird. Aber sie nehmen wieder an Wahlen teil, von denen sie sich zuletzt ferngehalten hatten. Insofern sind die Piraten ein Beitrag zur Beruhigung der Gemüter. Denn sie stellen einen Ausweg dar, den Mißmut der Bevölkerung nicht in Protest umschlagen zu lassen. Sie bieten wieder Hoffnung, daß jetzt alles anders werden kann, ohne sich mehr engagieren zu müssen, als ein Kreuz an einer anderen Stelle zu machen.

Zudem binden sie wieder Menschen an den Parlamentarismus, die sich engagieren möchten. Deren Hoffnung auf Basisdemokratie wird wieder neu belebt, die sie bei den anderen nicht mehr finden, so beispielsweise auch nicht mehr bei den Grünen. Es sind Leute, die mitreden und mitbestimmen wollen, größtenteils akademisch gebildete Menschen, Intellektuelle. Es sind Menschen, die gehört werden wollen und die auch glauben, daß sie aufgrund ihrer Bildung etwas zu sagen haben. Und sie wirken ein wenig beleidigt, weil die anderen Parteien und der Rest der Gesellschaft ihre Kompetenz nicht würdigt.

Gleichzeitig stellt der oben angeführte Kommentar der FAZ aber auch fest, daß es sich größtenteils auch um Menschen handelt, die ihre Politisierung, ihre Identität als politische Formation, aber auch ihr Weltbild aus dem Internet erhalten. Man "ergoogelt sich die eigene Meinung irgendwo zwischen Wikipedia, Blogs und Facebook".

Die herkömmlichen Parteien, deren Mitglieder und Wähler sich über eine gemeinsame Ideologie, eine sie verbindende Sicht der Welt und der Gesellschaft definieren, haben für sie keine Bedeutung. Vermutlich werden die Vorstellungen der herkömmlichen Parteien über das Funktionieren von Gesellschaft noch nicht einmal verstanden. Ihr Gesellschaftsbild ist ein Kompromiß von Lehrmeinungen über Gesellschaftstheorien, der harmonisch und weitgehend konfliktfrei ausgehandelt wird und in dem sich alle wiederfinden sollen und vielleicht auch können. Nur eines findet sich darin nicht wieder, die Wirklichkeit. Gesellschafts- und Weltbild sind da nicht Ausdruck des Versuchs, Wirklichkeit widerzuspiegeln, einzudringen in die Realität, diese zu verstehen und die Kräfte zu analysieren, die die Realität prägen. Gesellschaft wird nicht verstanden als dynamischer Prozeß, der bestimmt wird von Interessen und Kräften, die diese Interessen vertreten. Gesellschaft ist für sie nichts Lebendiges sondern ein Modell, in dem jeder seinen Baustein unterbringen und diesen darin auch wieder finden kann, eine schöne, harmonische, gegenseitig ausbalancierte Pyramide von Kompromissen und Ideen, aber keine Wirklichkeit.

Viel wichtiger als die Frage über die Bedeutung der Piratenpartei ist eine andere Frage: Was sagt das über eine Gesellschaft aus, in der eine solche Partei einen derartigen Anklang finden kann? In welchen Zustand befindet sich eine solche Gesellschaft?

Die Piraten sind ebenso ideologiefrei, wie sie unpolitisch sind. Um politisch zu sein, fehlt ihnen ein Weltbild, eine Vorstellung darüber, wie menschliche Gesellschaft funktioniert und wohin menschliche Entwicklung will. Getragen von diesem ihrem Weltbild, strebt eine politische Formation die Veränderung oder aber Erhaltung der Verhältnisse an, die diesem Weltbild entsprechen.

Dieses politische Ziel habe die Piraten nicht. Sie streben nach Wandel, nicht nach Veränderung. Sie wollen beispielsweise mehr Transparenz in der Politik bei gleichzeitiger Anerkennung der Regeln und Rahmenbedingungen, die gerade diese Transparenz verhindern.

Man erkennt nicht, daß es nicht eines anderen Personals bedarf, das besser macht, was die Etablierten nicht gut machen. Man erkennt nicht, daß es nicht der mangelnde Wille der Akteure ist, der eine Politik nicht zustande kommen läßt, die im Interesse der breiten Bevölkerung ist. Man kann es sich nicht einmal vorstellen, daß es die Bedingungen sind, die Politik scheitern lassen. Daß Politik heute, nach der Krise, nicht mehr so gemacht werden kann wie vorher, ist nicht Ergebnis von falschen Konzepten, mangelndem Willen oder fehlender Kompetenz, wie unter anderem auch die Piraten glauben machen wollen.

Die Politik bringt doch nicht ohne Grund eine Gesellschaft ins Straucheln durch unpopuläre Beschlüsse. Durch die Krise und die Maßnahmen zur ihrer Beherrschung zur Vermeidung des Zusammenbruchs ist eine wirtschaftliche und politische Lage entstanden, die die Spielräume der Politik massiv verengt hat.

Die Politiker in Griechenland haben doch keine Freude daran, ihr eigenes Volk in die Verarmung zu treiben. Die Tränen der italienischen Abgeordneten, die die massiven Sparbeschlüsse für die Rentner verkünden musste, waren doch keine Heuchelei.

Stritten Politiker, Wirtschaftswissenschaftler und sonstige noch vor der Krise darüber, ob der richtige Weg zur Rettung der Wirtschaft in einer Reduzierung der Staatsausgaben oder in der Ausweitung der Verschuldung liegt, so sind sie heute gezwungen, beides gleichzeitig zu machen, um noch überhaupt ein geringes Wirtschaftswachstum zu erreichen. All das tut man doch nicht, weil man mutwillig die Grundlagen der Gesellschaft erschüttern will. Sie tun es, weil sie aufgrund ihres Verständnisses von kapitalistischer Wirtschaft und Gesellschaft keinen anderen Ausweg sehen. Und sie müssen es tun, weil die Gesetze der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung immer weniger Alternativen zulassen.

All diese Rahmenbedingungen für das aktuelle politische Handeln nimmt man unter den Piraten nicht einmal wahr. Man glaubt, daß die eigene Bildung, die Beherrschung neuer Technologien und das Vertrauen auf die Wunderheilkraft der Netzwerke als Qualifikation ausreichen, der Gesellschaft neue Impulse zu geben.

Da die alten Parteien mit ihrer Ideologie-Orientierung keine Attraktivität mehr ausüben auf die Bevölkerung, glaubt man, daß Ideologie schlechthin überflüssig geworden ist. Gerade daß die Piraten keine zu haben scheinen, macht sie sympathisch, weil sie zugeben, auf viele Fragen keine Antwort zu haben. Auch die etablierten Parteien haben diese Antworten in Wirklichkeit nicht mehr. Sie glauben aber immer noch, daß sie den Menschen einen Weg aufzeigen können in eine freundlichere Zukunft. Sie merken nicht oder wollen es vielleicht auch nicht merken, daß die Antworten, die sie geben, nicht (mehr) als Antworten empfunden werden auf die Fragen, die sich die Menschen stellen. Sie können nicht mehr erklären, wieso seit der Weltwirtschaftskrise nicht mehr funktioniert, was vorher funktioniert hatte. Sie machen weiter so, wie bisher nur mit mehr Einsatz nach dem alten Try-harder.

Die Piraten ändern daran nichts, auch wenn bei ihnen ein Try-harder nicht gerade feststellbar ist. Aber auch ihre noch als sympathisch empfundene Unwissenheit und Beliebigkeit bieten keinen Ausblick in eine freundlichere Zukunft. Das wird den Menschen auf Dauer nicht genügen, wenn die Zukunft immer unsicherer wird.

Insofern entern die Piraten ein morsches Schiff. Es sieht äußerlich immer noch ganz gut aus. Aber bei einem genaueren Blick auf seinen inneren Zustand, auf seine Substanz stellt sich die Frage, wie weit es noch kommt.

 

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Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      Landtagswahl
      Saarland bleibt schwarz (25.03.12)

      US-Wahlkampf der Reichen
      Chancen nur ab einer Million US-Dollar aufwärts
      (18.01.12)

      Berlin bleibt schwarz
      Kleiner Erfolg für Piratenpartei (18.09.11)

      Landtagswahl:
      Mecklenburg-Vorpommern bleibt schwarz (4.09.11)

      Landtagswahl:
      Bremen bleibt schwarz (23.05.11)

      Polizei versenkt Piratenpartei
      Server beschlagnahmt (20.05.11)

      Baden-Württemberg: "Grün-Rot" fällt
      der Anti-Atom-Bewegung in den Rücken (28.04.11)

      Landtagswahl
      Recycling in Baden-Württemberg (27.03.11)

      Landtagswahl
      Rheinland-Pfalz bleibt schwarz (27.03.11)

      Sachsen-Anhalt: Schwarz bleibt
      trotz 17 Prozent am Ruder (21.03.11)

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      für Kohlekraftwerk Moorburg
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