Berlin (LiZ). Innenminister Thomas de Maizière hatte heimlich beschlossen, dem "Flüchtlingsstrom" aus Syrien einen Riegel vorzuschieben. Damit lief er Kanzlerinamts-Minister Peter Altmeier ins offene Messer. Plötzlich stand ihm Finanzminister Wolfgang Schäuble zur Seite. Im 'spiegel' ist von einem "Putsch" gegen die Kanzlerin zu lesen. Wenn alles inszeniertes Theater war - wozu das Ganze?
Am Freitag, 6. November, wurde publik, daß Innenminister Thomas de Maizière - angeblich ohne Absprache und auf eigene Faust - schon Wochen zuvor die Regelung eingeführt hatte, syrischen Flüchtlingen nur noch "subsidiären Schutz" zuzugestehen. Konkret würde dies bedeuten, daß de Maizière heimlich gegen geltendes Recht verstoßen hatte. Darf das geneigte Publikum annehmen, daß de Maizière wirklich so blöd ist und sich juristisch nicht auskennt? War er wirklich so blöd, daß er Altmeier nichtsahnend ins Messer lief?
Im ehemaligen Nachrichtenmagazin 'spiegel' ist heute von einem "Putsch" gegen Kanzlerin Angela Merkel zu lesen. Diese habe "die Richtlinienkompetenz verloren". Schäuble - "jetzt gerade so alt ist wie Adenauer war, als er das erste Mal Kanzler wurde" - habe sich auf die Seite de Maizières gestellt. "Wir erleben die Entmachtung einer Kanzlerin," so das Medium mit Redaktionssitz in Hamburg, einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Ein politischer Meuchelmord à la Shakespeare auf offener Bühne? Merkel, die "Mama der Flüchtlinge" im Moment eines humanitären Schwächeanfalls vom Thron gefegt?
Deutschland müßte schon die Genfer Flüchtlingskonvention aufkündigen, um den "Familien-Nachzug" von syrischen Flüchtlingen - ohne ernsthafte Begründung mit einer "Bedrohung der nationalen Sicherheit" - blockieren zu können. Das anschwellende Lamento extrem rechter Kräfte in Deutschland wegen einiger hunderttausend Flüchtlinge grenzt ans Absurde. Bevor 1993 das im Grundgesetz verankerte Asylrecht de facto abgeschafft wurde, hatten in den Jahren zuvor Hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland Asyl-Anträge gestellt - meist erfolglos.
Es ist in hohem Maße heuchlerisch, wenn vorgeschoben wird, Deutschland könne so viele Flüchtlinge "nicht verkraften". In Schweden leben derzeit pro Tausend EinwohnerInnen 12 Flüchtlinge - in Deutschland sind es lediglich 2. In Behelfslagern in Afrika und dem Nahen Osten harren Millionen von Flüchtlingen aus. Viele darunter haben noch die Hoffnung, in absehbarer Zeit in die Heimat zurückkehren zu können. Über 80 Prozent aller Flüchtlinge weltweit leben in den sogenannten Entwicklungsländern und somit in der unmittelbaren Nähe ihrer Herkunftsregion - meist unter katastrophalen Bedingungen. Diese Länder haben eine Last zu tragen, die jene Deutschlands oder auch Schwedens hundertfach übertrifft.
Nur den Wenigsten gelingt überhaupt eine Flucht nach Europa. Hinzu kommt, daß seit der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl im Jahr 1993 (mit Hilfe der "S"PD) und der Einführung des Tricks mit den "sicheren Drittstaaten" die Hauptlast innerhalb Europas den schwächsten EU-Staaten aufgebürdet wurde. Und immer noch wird meist ausgeblendet, daß die Mächtigen der USA und Europas mit Kriegen, Waffen-Exporten und jahrzehntelanger, bis heute ununterbrochen fortgesetzter Ausbeutung der sogenannten Entwicklungsländer die Hauptverursacher für die katastrophalen Zustände in jenen Ländern sind (Siehe hierzu etwa unseren Artikel v. 21.10.05).
In Deutschland beantragten im Jahr 2014 nach offiziellen Angaben rund 170.000 Flüchtlinge erstmals Asyl - fast 60 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Rund 40.000 von ihnen kamen aus Syrien, 13.000 aus Eritrea, 9.000 aus Afghanistan. In den ersten neun Monaten des Jahres 2015 sind nach Angaben des Innenministeriums 577.000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, angeblich rund 164.000 davon allein im September. Herkunftsland der Flüchtlinge ist meist Syrien - zuletzt machten syrische Flüchtlinge nach offiziellen Angaben rund die Hälfte aller ankommenden Flüchtlinge aus.
Der Krieg in Syrien wird - vor allem mittels finanzieller Unterstützung und Waffenlieferungen - vom "Westen" angeheizt, um das Assad-Regime zu stürzen und Syrien der US-dominierten Hemisphäre einzuverleiben. Zugleich geht es darum, den Einfluß-Bereich der Weltmacht Rußland weiter zurückzudrängen.
Nach bestehendem Recht - der sogenannten Dublin-III-Verordnung - muß dasjenige Land das Asylgesuch bearbeiten, in dem der Flüchtling zum ersten Mal EU-Boden betreten hat. Dies war für Deutschland in den vergangenen 20 Jahren sehr vorteilhaft, weil es nur sehr wenigen Flüchtlingen gelingt, per Flugzeug nach Deutschland zu reisen. Auf dem Weg über das Mittelmeer oder auf dem Landweg ist Deutschland von Afrika und vom Nahen Osten aus bekanntlich nicht direkt zu erreichen. Die Länder, in denen Flüchtlinge einen Asyl-Antrag stellen können, sind also vor allem die Mittelmeeranrainer. Weil aber die Regierungen von Griechenland, Italien und auch Ungarn sich als übervorteilt und "überlastet" betrachten, lassen sie Flüchtlinge unregistriert weiter nach Norden reisen. In dieser Situation blieb Bundeskanzlerin Angela Merkel gar nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Nebenbei nutzte sie die Gelegenheit zur Image-Pflege und präsentierte sich als "Mama der Flüchtlinge".
Selbstverständlich ist die gesamte deutsche "Elite", ob Merkel, Gabriel, de Maizière, Steinmeier, Schäuble, Seehofer und die hinter diesen Polit-Chargen stehenden Mächtigen aus der Wirtschaft nach wie vor skrupellos bereit, Jahr für Jahr Hunderttausende zu ermorden: Der Hunger in Afrika ist keine Naturkatastrophe sondern ein "Kollateralschaden", Tausende verdursten Jahr für Jahr auf den Fluchtwegen durch die Sahara und Jahr für Jahr ertrinken Tausende im Mittelmeer. Die westlichen "Eliten" sind sich sehr wohl bewußt, daß "unsere" Ökonomie und "unsere" Kriegs-Politik diese Flüchtlingsbewegungen in Gang setzen.
Derzeit geht es bei den Verhandlungen auf europäischer Ebne lediglich um Geld. Vor allem die deutsche Regierung versucht hinter den Kulissen, eine neue Regelung mit Staaten wie Ungarn, Griechenland und Italien zu vereinbaren - und dabei erneut möglichst viel der finanziellen Last auf die anderen EU-Staaten abzuschieben. Verschiebungsmasse sind bei diesem Polit-Poker die rund 120.000 Asyl-BewerberInnen, die aus Ungarn, Griechenland und Italien in andere Mitgliedsländer gebracht werden sollen. Von den Regierungen dieser Staaten werden die Flüchtlinge als Druckmittel eingesetzt, um Zugeständnisse der deutschen Bundesregierung zu erzwingen. Und absurder Weise bewirkt das anschwellende Lamento der Rechten in Deutschland exakt den gegenteiligen Effekt, den ihre Anheizer erreichen wollen: Je mehr Merkel durch eine - völlig irrationale - Angst vor einer "Überschwappung Deutschlands" unter Druck gerät, um so stärker wird die Verhandlungs-Position der Regierungen Ungarns, Griechenlands und Italiens.
Zurück zum "Putsch" in Deutschland, wo - nach Interpretation von rechter Seite - eine naive und zu weichherzige Kanzlerin ihren Amtseid bricht, das Wohl des deutschen Volkes aus den Augen verloren hat und - so ein Raunen aus dem Off - in US-amerikanischem Interesse den Untergang Europas betreibt. Betrachten wir zunächst die Rolle von Innenminister Thomas de Maizière: Nach geltende Gesetzeslage konnte er den "Familien-Nachzug" von Flüchtlingen aus Syrien gar nicht unterbinden. Aber allein dieses Ansinnen machte ihn chauvinistischen, anti-christlichen rechten Kreisen, denen das Leben von Flüchtlingen keinen Cent wert ist, sympathisch. De Maizière konnte mit diesem Manöver rechte Kreise an sich binden und deren Abwandern in Richtung AfD oder noch weiter nach Rechts entgegenwirken.
Merkel und ihr Kanzlerinamts-Minister Peter Altmeier spielten hingegen die Rolle von Linken - und Merkel heimste gar wegen ihrer vermeintlichen Neuausrichtung der Flüchtlings-Politik das Lob von Organisationen wie 'Pro Asyl' ein. Die 'taz', das Amtsblättchen der "rot-grünen" Schein-Opposition, schrieb am 5. Oktober: "Merkel steht also plötzlich ganz links in der Regierung." Zugleich beschlossen Parlament und Bundesrat in Assistenz der "schwarz-roten" Regierung innerhalb weniger Monate Regelungen, mit denen die Lage der Flüchtlinge weiter verschlechtert wurde. Zum einen wurde der kümmerliche Rest des Asylrechts weiter eingeschränkt. Zum anderen wurde eine weitere Aushöhlung des Bleiberechts verabschiedet - Gesetze, die von 'Pro Asyl' scharf kritisiert wurden.
Bekanntlich werden in Deutschland nur rund ein Prozent der syrischen Flüchtlinge als asylberechtigt anerkannt. 99 Prozent der syrischen Flüchtlinge haben daher keinen Status, der über den Status hinausgeht, den jeder syrische Flüchtling automatisch bekommt. Offensichtlich ist also der Auftritt de Maizières nichts anderes als eine leere Geste in Richtung des rechten Publikums. Er suggerierte damit lediglich, er könne mit einer Verweigerung des "Familien-Nachzugs" für Syrer die Zahl der Flüchtlinge reduzieren. Er hat hierzu weder eine rechtliche Handhabe noch würde eine solche Regelung überhaupt Wirkung zeigen. Dennoch fand die Offenbarung des Innnministers reichlich Echo von hohen "schwarzen" Amtsträgern.
Betrachten wir einmal genauer, was Innenminister de Maizière damit anspricht, wenn er die Vokabel vom "subsidiären Schutz" bemüht. Beim "subsidiären Schutz" würde syrischen Flüchtlingen nur noch ein Jahr Aufenthaltsdauer zugebilligt. Momentan werden syrische Flüchtlinge automatisch als Flüchtlinge gemäß der Genfer Konvention anerkannt. Grundlage dafür ist eine Entscheidung aus dem November 2014, nach der für Flüchtlinge aus Syrien ein beschleunigtes Verfahren angewendet wird. Dieses Verfahren wurde eingeführt, da laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei syrischen Flüchtlinge ohnehin grundsätzlich eine "Flüchtlings-Eigenschaft" festgestellt werden müsse.
Der "subsidiäre Schutz" greift jedoch nur dann, wenn weder das Asylrecht noch die Flüchtlings-Eigenschaft per Genfer Konvention Anwendung finden. Was de Maizière andeutet, würde also heißen, daß er die Anerkennung der syrischen Flüchtlinge als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention außer Kraft setzen will. Würde er dies tatsächlich per Dienstanweisung durchsetzen wollen, hätte es für die Flüchtlinge - außer einem zusätzlichen Gerichtsverfahren - keinerlei Konsequenzen. Denn syrische Flüchtlinge hätten in diesem Fall das Recht, ihren Flüchtlings-Status gerichtlich feststellen zu lassen. Und da sich die Lage in Syrien sich seit November 2014 keineswegs verbessert hat, müßten die Gerichte ihnen den Flüchtlings-Status entsprechend Genfer Konvention zusprechen. Der einzige Effekt wäre, daß die ohnehin massiv überforderten "Asyl-Gerichte" dann noch mehr zu tun hätten und die Verfahrensdauer sich noch weiter in die Länge ziehen würde. De facto ist eine Abschiebung in ein vom Krieg gezeichnetes Land wie Syrien nach allen internationalen Verträgen und nationalen wie internationalen Gesetzen nicht möglich.
Doch an den rechten Rand der deutschen Gesellschaft signalisiert der Innenminister die Botschaft: "Abschieben, kein Nachzug, harte Hand, weniger Flüchtlinge!" Und während de Maizière, Schäuble und Seehofer das rechte Publikum - verbal! - bedienen und das gesamte politische Spektrum bis hin zum braunen Sumpf an sich zu binden versuchen, positionieren sich Merkel und Altmeier als human, um zugleich Sympathien bei Mitte-Links zu gewinnen - ohne real auch nur einen Deut an der "schwarz-roten" Politik ändern zu müssen. Sie lassen sich von den Mainstream-Medien dafür loben, daß sie die geltenden Gesetze befolgen. Und so werden diese und zugleich Merkel und Altmeier aus der Perspektive der rechten Randes immer weiter "links" verortet.
Was derzeit auf der Berliner Bühne geboten wird, erinnert an eine Szene im Bundesrat am 22. März 2002. Es ging um das Zuwanderungs-Gesetz und bei einem Eklat um die Stimmabgabe Brandenburgs verließen die Vertreter der unionsregierten Bundesländer unter Tumult ihre Sitzplätze. Der damalige "schwarze" saarländische Ministerpräsident Peter Müller plauderte einige Monate darauf öffentlich aus, daß diese Schmieren-Komödie inclusive Tränen und Gebrüll zuvor abgesprochen und inszeniert war (Siehe unseren Artikel v. 22.01.11). Im Wikipedia-Eintrag über Peter Müller ist über diese Episode selbstverständlich nichts zu finden. Wer nun die Fakten kennt, vermag sicherlich selbst zu entscheiden, ob in Berlin derzeit tatsächlich ein Putsch ansteht oder ob es sich auch in diesem Fall um eine Inszenierung handelt.
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Asylheime brennen
in BaWü und MecPomm (20.09.15)
"Kriegs-und Ausbeutungspolitik"
Offener Brief von Jürgen Todenhöfer (26.08.15)
Antirassistische Plakat-Aktion
in Freital (25.07.15)
Europa mordet
Heute: 700 im Mittelmeer
und Zehntausende in Afrika (19.04.15)
Europa mordet
Verhungern in Afrika
Ertrinken im Mittelmeer (15.04.15)
Fakten gegen Vorurteile
Mediendienst Integration regt zu Diskussion an (5.01.15)
Aktion gegen Festung Europa
Mit dem Bolzenschneider zur EU-Mauer (3.11.14)
NRW: Mißhandlungen von Asylsuchenden
Polizeigewerkschaft beklagt Staatsversagen (29.09.14)
Festung Europa
Massenmord im Mittelmeer (15.09.14)
Festung Europa
Flüchtlinge aus Niger in Sahara verdurstet (31.10.13)
Mord an Flüchtlingen
Barroso auf Lampedusa ausgebuht (9.10.13)
Festung Europa
Über 60 Flüchtlinge ermordet (3.10.13)
Festung Europa
Tödliche Mauer am Bosporus (11.12.12)
Hunger und Kapitalismus
"Der Süden finanziert den Norden" (17.10.12)
Festung Europa
Die NATO und der Tod von 63 Bootsflüchtlingen (5.04.12)
Statistik widerlegt Sarrazin-Thesen
Lohnt die Auseinandersetzung? (12.01.11)
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Bollwerk am Bosporus geplant (1.01.11)
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Grenzregime am Bosporus verstärkt (2.11.10)
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Libyen als EU-Grenzposten (29.06.09)
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im Mittelmeer ertrunken (31.03.09)
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mit Flüchtlingen beim FdAaF-Bundesamt (3.06.04)
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Kinderrechte mit Füßen getreten (16.01.04)
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