21.12.2010

Discounter Lidl für 10 Euro Mindestlohn
Einzelhandel fürchtet Ost-Konkurrenz

Mindestlohn 10 Euro Neckarsulm (LiZ). Der Discounter Lidl hat sich für einen Mindestlohn von 10 Euro ausgesprochen, was der 'Frankfurter Appell' seit Jahren fordert. Peinlich für die im DGB organisierten Gewerkschaf- ten, die lediglich einen Mindestlohn von 8,50 Euro fordern und damit sogar noch das Mindestlohn- Niveau der europäischen Nachbarländer unterbieten. So liegt der Mindestlohn beispielsweise in Luxemburg bei 9,73 Euro, in Frankreich bei 8,86 Euro - er soll auf 9 Euro erhöht werden - und in den Niederlanden bei 8,64 Euro. Die Discounter-Kette Lidl im Einklang mit der Linkspartei? Was steckt hinter dem Vorstoß von Lidl?

Die Billig-Supermarktkette wolle jede politische Initiative unterstützen, die die Einführung eines Mindestlohns zum Ziel habe, um im Ergebnis den Gesetzgeber zum Handeln zu bewegen. Zudem habe das Unternehmen sich mit seiner Forderung an alle Fraktionsvorsitzenden im Bundestag gewandt. Ob Lidl bereits eine Spende an die Linkspartei überwiesen hat, die als einzige Partei im Bundestag die Forderung des 'Frankfurter Appells' nach 10 Euro Mindestlohn unterstützt, ist nicht bekannt.

Lidl-Aufsichtsratschef Klaus Gehrig hatte bereits im Februar für Aufsehen gesorgt, als er für einen Mindestlohn im Einzelhandel eintrat. Er nannte damals noch keinen Betrag. Jürgen Kisseberth, Vorsitzende der Geschäftsleitung von Lidl, erklärt am gestrigen Montag in Neckarsulm den von Unternehmer-Seite ungewohnten Vorstoß für 10 Euro Mindestlohn - und das nicht nur im Einzelhandel - so: "Nur mit einem verbindlichen Mindestlohn läßt sich das in verschiedenen Branchen zu beobachtende Lohndumping wirksam unterbinden."

Dies wäre das erste mal, daß ein Unternehmen Lohndumping als etwas abträgliches einschätzen würde. Gerüchteweise wurde verbreitet, das Unternehmen habe sein Herz für die MitarbeiterInnen entdeckt, weil damit ein Image-Gewinn zu erzielen sei. Doch wenn das Image wichtiger wäre als der mit Lohnsenkungen zu erzielende Wettbewerbs-Vorteil, würden die Löhne in Deutschland steigen. Sie sanken jedoch real - also an der Kaufkraft gemessen - in den vergangenen zehn Jahren um 4,5 Prozent wie mittlerweile sogar im 'spiegel' zu lesen ist.

Verschiedentlich wurde ein Argument genannt, das schon eher den Vorstoß von Lidl zu erklären vermag: Beim Discounter Lidl, der am Umsatz gemessen relativ wenig Personal beschäftigt, beträgt der Lohnkosten-Anteil an den Gesamtkosten lediglich ein bis zwei Prozent. Der selbständige Einzelhandel hat hingegen einen Lohnkosten-Anteil von 10 bis 14 Prozent. Branchenweite Lohnerhöhungen verschaffen Lidl also einen Wettbewerbs-Vorteil. Ob dieser jedoch finanziell schwerer wiegt als zusätzliche Personal-Ausgaben, ist fraglich.

Schon eher erklärt daher den Einsatz für 10 Euro Mindestlohn Klaus Gehrigs Aussage, bei Lidl verdiene schon heute kein Mitarbeiter in den Filialen oder im Warenlager weniger als zehn Euro pro Stunde. Dies gelte auch für geringfügig Beschäftigte. Fast die Hälfte der Belegschaft arbeitet demnach in der höchsten Stufe des Einzelhandelstarifvertrags und verdient deutlich mehr als zehn Euro pro Stunde.

Doch die eigentliche Motivation kommt aus dem Osten: Immer mehr Unternehmen befürchten eine Flut der Billigkonkurrenz. Am 1. Mai 2011 wird der deutsche Arbeitsmarkt für Arbeitskräfte aus Osteuropa vollständig geöffnet. Einhellig fordern deshalb Unternehmen und Gewerkschaften, ExpertInnen und PolitikerInnen plötzlich einen Mindestlohn, um Lohndumping zu verhindern. Die Höhe ist allerdings keineswegs Konsens. Nur wenige wollen sich der Forderung des Frankfurter Appells nach 10 Euro Mindestlohn anschließen.

Nachdem Dieter Hundt, Wortführer der Kapital-Seite, bereits einen Mindestlohn für die Zeitarbeits-Branche gefordert hat, plädiert nun auch Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), für einen Mindestlohn in Deutschland. Ab Mai sei - nun plötzlich - eine "Lohn-Abwärtsspirale" zu befürchten, insbesondere in Teilen des Dienstleistungs-Sektors, wo bereits jetzt niedrige Löhne gezahlt werden, erklärte der IAB-Chef in Nürnberg. Die gesellschaftlichen Schäden wären "immens", warnte er. Möller sprach sich daher für einen "mit Augenmaß festgesetzten Mindestlohn" aus.

Ab dem 1. Mai muß Deutschland seinen Arbeitsmarkt für Arbeitskräfte aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen und Ungarn öffnen. Menschen aus diesen Ländern können sich dann ohne Beschränkung einen Job in Deutschland suchen. Zudem dürfen Unternehmen aus den neuen Mitgliedstaaten ArbeitnehmerInnen auf den deutschen Arbeitsmarkt entsenden. Hundt sagte daher gegenüber dem 'Hamburger Abendblatt': "Wir brauchen den Gesetzgeber, um den Mindestlohn auch auf ausländische Anbieter von Zeitarbeitskräften auszudehnen." Er befürchtet, daß ein deutsches Zeitarbeits-Unternehmen in Stettin eine Filiale aufmache, dort ArbeitnehmerInnen aus Mecklenburg einstelle und diese dann auf Basis des polnischen Tarifvertrags mit vier oder fünf Euro Stundenlohn wieder in Deutschland einsetze, sagte Hundt. Dies würde einen berechtigten öffentlichen Aufschrei geben.

Hundt will also auch ausländische Firmen auf den kommenden deutschen Mindestlohn verpflichten. Denn nicht nur über Leiharbeiter-Firmen droht den deutschen Unternehmern Ungemach: Die Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts werde auch "zum Problem, wenn Unternehmen ihre Arbeitnehmer zu polnischen oder baltischen Löhnen bezahlen," erklärt IAB-Direktor Möller. Einen solchen Lohn-Wettbewerb könnten deutsche Unternehmen nicht bestehen. Die Situation im Niedriglohn-Bereich könne sich "gravierend" verschärfen, warnte der Arbeitsmarkt-Experte. Dabei könnten sich gesellschaftliche Probleme und soziale Spannungen zuspitzen. Die Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe liege bereits heute bei mehr als 20 Prozent.

Das Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) zeigt sich nun vom Lidl-Vorstoß begeistert. "Wir hoffen, daß viele Unternehmen dem Beispiel folgen werden", so die Vize-Vorsitzende von ver.di, Margret Mönig-Raane. Ver.di plädiere in Einzelhandel mit seinen 2,9 Millionen Beschäftigten für eine Untergrenze, die eher bei zehn Euro als bei 8,50 Euro liege, so eine Sprecherin. Der Handelsverband Deutschland (HDE) führt seit einiger Zeit Gespräche mit ver.di über einen verbindlichen Mindestlohn im Einzelhandel. Vor diesem Hintergrund kritisiert er den Vorstoß des Discounters Lidl um so heftiger. "Einen Mindestlohn in Höhe von zehn Euro schließe ich aus. Das ist unrealistisch", erklärte der HDE-Geschäftsführer Heribert Jöris der 'Berliner Zeitung'. In der Branche lägen die untersten Tariflöhne zurzeit zwischen rund sieben Euro in Mecklenburg-Vorpommern und 8,80 Euro in Baden-Württemberg. Innerhalb dieser Spanne werde wohl auch der künftige Branchenmindestlohn vereinbart. Doch bereits jetzt sickerte durch, daß sich Unternehmen und Gewerkschaften darauf verständigt hätten, zum 1. Mai 2011 einen Mindestlohn von 7,79 Euro im Westen und 6,89 Euro im Osten einzuführen.

"Gleiche Arbeit - gleicher Lohn" und "Gute Arbeit - fairer Lohn" sollte zum Motto für die Situation aller Beschäftigten in Deutschland werden, erklärte Lidl-Vorsitzender Kisseberth. Lidl sei "sehr" daran interessiert, daß die Diskussion um das Thema Mindestlohn lebendig bleibe. Den abhängig Beschäftigten kann dieser zwist im Unternehmer-Lager nur recht sein.

 

LINKSZEITUNG

 

Anmerkungen

Siehe auch unseren Artikel:

      Zeitarbeit / Gericht spricht "christlicher Gewerkschaft"
      Tariffähigkeit ab / Hürde gegen Lohndumping (14.12.10)

      Mißbrauch von Ein-Euro-Jobs?
      Der Zweck ist Lohndumping (15.11.10)

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      "Heißer Herbst" mit angezogener Handbremse?
      (13.10.10)

      Real über 9 Millionen Arbeitslose
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      Aufschwung oder Weltwirtschaftskrise?
      Ist Deutschland eine Insel der Seeligen? (1.10.10)

      50 Milliarden Euro
      für Subventionierung des Niedriglohn-Sektors (13.08.10)

      Pisa 2010 und die Schere
      zwischen Arm und Reich (23.06.10)

      Ausgepreßt
      Sozialabbau schwarz-gelb (7.06.10)

      DGB-Chef Sommer: Nicht Jahr eins,
      sondern Jahr drei der Krise
      Generalstreik bleibt Tabu (1.05.10)

      Hartz-IV-Regelsätze verfassungswidrig
      Herbe Niederlage für "Schwarz-Rot-Gelb-Grün" (9.02.10)

      Bundesverwaltungsgericht:
      Post-Mindestlohn nicht rechtmäßig (29.01.10)

      DIW-Studie zum Vermögen in Deutschland
      Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter
      (19.01.10)

      Bilanz von fünf Jahren Hartz IV
      Repression als "Arbeitsmarkt-Reform"
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      Aufschwung? Abschwung?
      Schwund bei den Reallöhne seit vielen Jahren (14.08.09)

      Gerichtsentscheid gegen Hartz-IV-Schikane
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      Sozialabbau und Niedriglohn-Sektor
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      Dient eine Lohnuntergrenze den Mächtigen? (7.04.08)

      Hartz IV - Eine Zwischenbilanz
      Niediglohnsektor ausgeweitet
      Fördern unter den Tisch gefallen (30.07.07)

      Mindestlohn, Bezahlung von Putzkräften
      im Bundestag
      und Heuchelei (12.05.06)

      Für einen Mindestlohn
      von 10 Euro (22.08.06)