22.03.2017

Japanisches Gericht verurteilt
TEPCO und Regierung

Fukushima fallout, März 2012
Maebashi (LiZ). Das Bezirksgericht in Maebashi in der japanischen Präfektur Gunma sprach 62 von 137 KlägerInnen Schadensersatz in Höhe von insgesamt 38,55 Millionen japanischer Yen - rund 317.000 Euro - zu, weil sie nach dem 11. März 2011 ihre Heimat verlassen mußten. Zugleich wurden sowohl der Energie-Konzern TEPCO als auch die japanische Regierung für schuldig befunden, für den dreifachen Super-GAU von Fukushima verantwortlich zu sein.

Die klare Sprache des Gerichts fand in ganz Japan große Beachtung und die "Kernkraft-Kirche" ist angesichts dieses Urteils geschockt. Noch für diese Woche berief die japanische staatliche Atomaufsicht eine Sondersitzung ein.

In der Urteilsbegründung ist nachzulesen, daß aufgrund seit langem vorliegender wissenschaftlicher Erkenntnisse die Katastrophe vorhersehbar war. Dennoch hätten sowohl das TEPCO-Management als auch die japanische Regierung dieses Wissen ignoriert und nicht entsprechend gehandelt. Beide wurden daher der Fahrlässigkeit für schuldig befunden.

Unter anderem berief sich das Gericht auf ein seit dem Jahr 2002 vorliegendes regierungsamtliches Gutachten, wonach mit einem Erdbeben von mindestens der Stärke 8 auf der Richterskala vor der Küste Nordost-Japans innerhalb von 30 Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent zu rechnen ist. Diese Risiko-Zone schließt demnach auch den Meeresboden direkt vor dem AKW Fukushima Daiichi mit ein.

Darüber hinaus legten die KlägerInnen ein internes TEPCO-Gutachten aus dem Jahr 2008 vor. Dessen Titel lautet 'Unausweichliche Tsunami-Ausmaße' und darin wird ausgeführt, daß ein Tsunami mit einer potentiellen Kammhöhe von 15,7 Metern, der auf das AKW Fukushima Daiichi trifft, möglich ist.

Das Gericht in Maebashi kam daher zu dem Ergebnis, daß der Super-GAU von Fukushima hätte vermieden werden können, wenn die japanische Regierung ihre regulatorischen Befugnisse ausgeschöpft und TEPCO veranlaßt hätte, einen entsprechend starken Schutzwall gegen Tsunamis zu errichten. Für den meerseitigen Teil des Geländes existierte nur eine 5,70 Meter hohe Schutzmauer. Vorgeschrieben war für das AKW Fukushima Daiichi lediglich eine Schutzmauer gegen Tsunamis in Höhe von 3,12 Meter. Der Tsunami vom 11. März 2011 hatte eine Kammhöhe von ungefähr 13 bis 15 Metern. Die 10 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Reaktorblöcke 1 bis 4 wurden bis zu 5 Meter tief überschwemmt, die drei Meter höher erbauten Blöcke 5 und 6 nur bis zu einem Meter. Die Regierung hätte daher TEPCO bessere Sicherheitsvorkehrungen - so etwa auch eine zusätzliche Notstrom-Versorgung - auferlegen müssen. Weiter kritisierte das Gericht, daß offenbar der Profit wichtiger war als die Sicherheit.

Während die RichterInnen des Bezirksgerichts in Maebashi feststellten, daß Ignoranz gegenüber wissenschaftlichen berechenbaren Risiken zu katastrophalen Folgen führen kann, scheint die staatliche Atomaufsicht sich immer noch dieser Erkenntnis zu verschließen. In den vergangenen vier Jahren hat sich diese dem Druck von Seiten der Strom-Konzerne und der japanischen Regierung gebeugt und alles in ihrer Macht stehende getan, um das Wiederhochfahren der insgesamt nach der Fukushima-Katastrophe noch intakten 50 Atom-Reaktoren zu ermöglichen. Nur dem lokalen Widerstand und dem Einschreiten von Bezirksgerichten ist es zu verdanken, daß bislang erst drei Atom-Reaktoren in zwei Atomkraftwerken (einer im AKW Ikata und zwei im AKW Sendai) wieder in Betrieb sind (Siehe hierzu auch unsere Artikel v. 22.06.16, v. 29.01.16 und v. 10.08.15).

Die japanischen Atomkraftwerke, Karte - Grafik: Samy - auf der Grundlage einer Grafik des Japan Atomic Industries Forum - Creative-Commons-Lizenz Namensnennung Nicht-Kommerziell 3.0

Die japanische Nukleare Regulierungsbehörde (NRA) hat für zwei Reaktoren des AKW Takahama die Betriebsgenehmigung sogar um 20 Jahre verlängert. Und zudem erlaubte die NRA das Wiederhochfahren der drei über vierzig Jahre alten Atom-Reaktoren der AKW Takahama und Mihama, indem sie die Strom-Konzerne davon befreite, einen Nachweis zu führen, daß deren Primärkühlsysteme überhaupt die im Jahr 2013 überarbeiteten Vorschriften erfüllen können. Damit geht die NRA sehenden Auges das Risiko ein, daß es zu einem weiteren Super-GAU in Japan kommt - falls nicht doch noch die japanische Bevölkerung mit Blockaden und mit Hilfe von Gerichten den endgültigen Atom-Ausstieg durchsetzt. Nach mehreren und übereinstimmenden Umfragen haben sich mehr als 57 Prozent der JapanerInnen gegen den Neustart von Atomkraftwerken ausgesprochen.

Und daher ist leicht vorherzusehen, daß das aktuelle Gerichtsurteil von Maebashi eine entscheidende Rolle dabei spielt, ob in Japan die wissenschaftlich nachgewiesenen Risiken in Zukunft ernst genommen werden. "Ich glaube, daß es sich um ein bedeutendes Urteil handelt, da sowohl die Regierung als auch TEPCO gleichermaßen für schuldig befunden wurden," sagte Katsuyoshi Suzuki, Sprecher der RechtsanwältInnen auf einer Pressekonferenz nach der Gerichtsverhandlung. Die Klagen waren bereits im September 2011 beim Bezirksgericht von Maebashi eingereicht worden.

Auch der Neustart der Reaktoren 3 und 4 des AKW Takahama konnte am 9. März 2016 mit Hilfe eines Bezirksgerichts verhindert werden. In ganz Japan sind derzeit dreißig vergleichbare Klagen vor Bezirksgerichten anhängig, in denen es um Entschädigungen für weitere rund 10.000 Menschen geht. Über 80.000 AnwohnerInnen um das AKW Fukushima Daiichi hatten ihr Zuhause nach dem 11. März 2011 verlassen müssen.

Große Hoffnung setzt die japanische Anti-AKW-Bewegung auch in die angekündigte Zeugenvernehmung des ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der NRA, Kunihiko Shimazaki, der sich bereit erklärt hat, in einem Gerichts-Verfahren gegen den Betrieb des AKW Oi auszusagen. Nach dem 11. März 2011 waren sämtliche Atomkraftwerke in Japan - mit einer zeitweiligen Ausnahme des AKW Oi - abgeschaltet (Siehe unseren Artikel v. 15.09.14 akwjap140915.html). Gewissermaßen als Testballon hatte die japanische Regierung Ende Juni 2012 erlaubt, daß die Reaktoren 3 und 4 des AKW Oi hochgefahren wurden. Am 15. September 2013 mußten sie - angeblich wegen Wartungsarbeiten - erneut abgeschaltet werden.

 

LINKSZEITUNG

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      Atom-Konzern Toshiba geht unter
      6 Milliarden Euro Verluste (19.01.17)

      Japan: Atomkraft-Renaissance
      steht auf der Kippe (22.06.16)

      Fukushima: 5 Jahre seit Beginn
      des dreifachen Super-GAU (11.03.16)

      Japan: Dritter Atom-Reaktor
      wieder hochgefahren (29.01.16)

      Japan: Hohe Cäsium-Belastung der Luft
      auch lange nach Fukushima-Katastrophe (11.01.16)

      Taifun Etau schwemmt Radioaktivität
      aus Fukushima Daiichi in den Pazifik (10.09.15)

      AKW Sendai wieder am Netz
      Russisches Roulette mit dem nächsten Super-GAU
      (21.08.15)

      AKW Sendai morgen wieder ans Netz?
      57 Prozent der Bevölkerung dagegen (10.08.15)

      Projekt "Wiederbesiedlung Fukushima"
      Regierungs-Irrsinn wegen Olympiade 2020? (19.07.15)

      Aktive Vulkane nahe AKW-Standort Sendai
      Neustart der Atomenergie in Japan Anfang Juli? (30.05.15)

      Rückschlag für Anti-Atom-Bewegung
      Japanisches Gericht erlaubt Neustart (22.04.15)

      Atom-Ausstieg: Japan weiterhin vorn
      Gericht untersagt Neustart von AKW (14.04.15)

      Fukushima: Radioaktives Wasser
      fließt in den Pazifik (23.02.15)

      Fukushima: Schilddrüsen-Krebs
      bei immer mehr Kindern (6.01.15)

      Gouverneur erteilt Genehmigung
      zum Wiederhochfahren des AKW Sendai (7.11.14)

      16.000 in Tokio gegen Atomenergie
      Kenzaburo Oe kritisiert japanische Regierung (23.09.14)

      Japan: Weiterhin ohne Atomkraft
      59 Prozent gegen Wiedereinstieg (15.09.14)

      Fukushima: Bau einer fiktiven
      Eisbarriere gilt mittlerweile als "gescheitert" (27.08.14)

      Trojaner Havex kann AKW fernsteuern
      und Super-GAU auslösen (27.06.14)

      Japanisches Gericht stoppt Wiederhochfahren
      des AKW Oi (21.05.14)

      Fukushima: Immer weitere "Pannen"
      Wiedereinstieg in Atomenergie auf der Kippe (25.02.14)

      AKW-Ruine Fukushima
      Risse im Druckbehälter von Reaktor 3 (21.01.14)

      Trojaner in japanischem AKW
      Schneller Brüter Monju befallen (17.01.14)

      Folgen von Fukushima:
      Krebs bei US-SoldatInnen (7.01.14)

      Radioakives Material aus Fukushima
      in Ukraine (3.01.14)

      Fukushima: Extreme Radioaktivität
      25 Sievert/Stunde (10.12.13)

      Gefährliche Bergung der Brennelemente beginnt
      TEPCO als inkompetent kritisiert (18.11.13)

      Radioaktivität unter Fukushima
      um das 6.500-fache gestiegen (19.10.13)

      40.000 demonstrieren in Tokio
      gegen Neustart der Atomenergie (15.10.13)

      Super-GAU von Fukushima
      Radioaktive Belastung des Meeres steigt (10.10.13)

      Hilflos in Fukushima
      Japanische Regierung bittet Ausland um Beistand (6.10.13)

      Japan: Kein AKW in Betrieb
      Es geht auch ohne Atomkraft (15.09.13)

      Unterirdischer Abfluß aus Fukushima
      größer als bislang zugegeben (1.09.13)

      Super-GAU von Fukushima
      Immer mehr Kinder mit Krebserkrankungen
      TEPCO will Hilfe von IAEA (22.08.13)

      AKW-Ruine Fukushima
      Immer mehr radioaktives Grundwasser fließt ins Meer
      (8.08.13)

      Super-GAU von Fukushima
      Dramatischer Anstieg der Radioaktivität im Grundwasser
      (10.07.13)

      Fukushima: Strontium im Grundwasser
      (19.06.13)

      Gerichtsurteil in Japan:
      Kinder müssen in verstrahlter Region bleiben (24.04.13)

      AKW-Ruine Fukushima
      Notkühlung ausgefallen (19.03.13)

      Fukushima mahnt
      IPPNW-Report über Folgen des Super-GAU (6.03.13)

      Zwei Jahre nach Fukushima
      Fünf Groß-Demos in Deutschland (4.03.13)

      Fisch im Küstengebiet vor Fukushima
      auch nach 18 Monaten stark radioaktiv belastet (26.10.12)

      Fukushima
      "Falsches Gefühl der Sicherheit" (23.10.12)

      Fukushima: 36 % der Kinder
      haben veränderte Schilddrüsen (5.07.12)

      200.000 in Tokio gegen Atomenergie
      AKW Oi wird hochgefahren (30.06.12)

      Atomkraftwerke in Japan
      Alle Reaktoren abgeschaltet (5.05.12)

      Atomkraftwerke
      Kernschmelz-Risiko unterschätzt (1.03.12)

      Der permanente Super-GAU von Fukushima
      "Kaltabschaltung" obsolet - Temperatur steigt (13.02.12)

      Japan: Nur noch 3
      von 54 Atom-Reaktoren am Netz
      Internationale Anti-Atom-Konferenz in Yokohama (30.01.12)

      AKW Fukushima Daiichi jetzt sicher?
      Groteske Informationspolitik in Japan (16.12.11)

      Der permanente Super-GAU von Fukushima
      Kernschmelze gravierender als zugegeben (2.12.11)

      Der permanente Super-GAU von Fukushima
      Hinweise auf fortdauernde Kernspaltung (2.11.11)

      Hohe Radioaktivität in Tokio
      Behörden leugnen Zusammenhang mit Fukushima
      (13.10.11)

      Der permanente Super-GAU von Fukushima
      Wie viele Menschen sind bisher betroffen? (7.09.11)

      Der permanente Super-GAU von Fukushima
      Regierung verteilt Radioaktivität über Japan (27.08.11)

      Steigende Strahlungswerte
      in Atom-Ruine Fukushima (2.08.11)

      Stark erhöhte Radioaktivität
      in Fukushima (4.06.11)

      Fukushima: Der permanente Super-GAU
      TEPCO bestätigt Kernschmelze in 3 Reaktoren (24.05.11)

      Explosionsgefahr in Fukushima
      Situation weitaus schlimmer als bislang dargestellt
      (12.05.11)

      Aktuelle Hintergrund-Informationen
      zur Reaktor-Katastrophe von Fukushima
      US-ExpertInnen befürchten negative Entwicklung
      in den kommenden Monaten
      Fotos von cryptome.org (6.04.11)

      Japanischer AKW-Experte:
      Reaktor I vermutlich schon am 11. März leck (29.03.11)

      Fragen zur Situation in Japan,
      zur Atomenergie und zu Deutschland (25.03.11)

      Gesellschaft für Strahlenschutz:
      Super-GAU ist längst Realität (23.03.11)

      Die Situation in den havarierten japanischen AKW
      Stand: Sonntag 16 Uhr (13.03.11)

      Notkühlfall in japanischem AKW
      Situation in Reaktor Fukushima Daiichi I spitzt sich zu
      (11.03.11)