Tokio (LiZ). Während die Atom-Ruine von Fukushima weiterhin Radioaktivität an die Umgebung abgibt, sorgt die japanische Regierung für eine großflächige Verteilung der Radioaktivität und damit für Krankheit und vorzeitigen Tod bei zukünftigen Generationen. So soll etwa radioaktiv kontaminierter Klärschlamm verbrannt werden, wobei sich radioaktive Partikel mit dem Rauch und der Asche über ganz Japan ausbreiteten werden.
In 17 der 48 Präfekturen Japans - darunter auch Tokio - ist ein Notstand ausgebrochen, weil niemand weiß, wohin mit dem radioaktiven Klärschlamm. Nach einer Meldung des japanischen TV-Senders NHK haben sich mittlerweile 50.000 Tonnen radioaktiven Klärschlamms angesammelt, davon 1.500 Tonnen hochradioaktiv. Dieser Klärschlamm häuft sich bislang auf den Arealen der Kläranlagen und wird meist nur notdürftig mit Planen abgedeckt.
Klärschlamm darf in Japan verbrannt werden, wenn er maximal mit 8.000 Becquerel pro Kilogramm belastet ist. Doch zulässig ist es auch, radioaktiven Klärschlamm solange mit unbelastetem Müll zu mischen, bis der Grenzwert unterschritten ist. In den USA wäre dies - zumindest auf dem Papier - nicht zulässig. Doch aus den USA ist bekannt, daß sich die Atom-Industrie wenig bis gar nicht um staatliche Auflagen schert. (Siehe unseren Bericht v. 1.04.11) der US-amerikanische Nuklearingenieur Arnie Gundersen kritisiert dieses Vorgehen und warnt davor, daß die japanische Regierung mit dieser Praxis dafür verantwortlich ist, daß dabei stets weitere Gegenden Japans radioaktiv kontaminiert werden.
Yoshinori Moriyama von der Agentur für Nuklearsicherheit (NISA) bestätigte die gängige Praxis, radioaktiven Müll vor dem Verbrennen durch Vermischen unter der Schranke des offiziellen Grenzwerts hindurch zu schmuggeln: "Entscheidend ist der Durchschnittswert. Aber NISA ist dafür nicht zuständig." Ein Regierungssprecher erklärte, bis Ende August werde die Zuständigkeit für radioaktiv kontaminierten Müll geklärt.
Vor wenigen Tagen bat der noch geschäftsführend amtierende japanische Ministerpräsident Naoto Kan darum, in der Präfektur Fukushima eine "temporäre Deponie" für radioaktiv kontaminierte Trümmer und Erde einzurichten. Es gebe keine Alternative, wo nun 10.000 Tonnen radioaktiver Müll untergebracht werden könnte. Dies war eine der letzten Amtshandlungen des Ministerpräsidenten, der voraussichtlich am kommenden Montag zurücktreten wird. Es steht allerdings nicht zu erwarten, daß sein Nachfolger sich - außer vielleicht mit Worten - für einen Atom-Ausstieg und eine Energie-Wende einsetzen wird. Zu sehr ist in Japan das politische Establishment mit der Industrie verfilzt.
Bei einem Treffen Naoto Kans mit dem Gouverneur von Fukushima, Yuhei Sato, versprach der Ministerpräsident, das "temporäre" Atommüll-Lager werde nicht zu einer permanenten Lösung, sprich: einem Endlager. Hier sollen beispielsweise Trümmer der Atom-Ruinen und der Gebäude aus der Sperrzone deponiert werden. Hinzu kommen radioaktiv kontaminierte Pflanzen, die entsorgt werden mußten. Bemerkenswerter Weise leugnen die japanischen Behörden nicht länger, daß an vielen sogenannten Hotspots - teils mehr als hundert Kilometer vom AKW Fukushima Daiishi entfernt - hohe Strahlenwerte gemessen wurden. Für die radioaktiv kontaminierte Erde, die abgetragen werden muß, steht bislang offiziell keine Deponie zur Verfügung.
In der 300.000-Einwohner-Stadt Fukushima, rund 50 Kilometer vom Super-GAU entfernt, wurden bis Anfang August bereits in 334 Schulhöfen und Kindergärten radioaktiv kontaminierte Bodenschichten abgetragen. In der Stadt Koriyama in der Präfektur Fukushima mußten sämtliche Schulhöfe dekontaminiert werden. Mangels einer zugelassenen Deponie wurde sie zum Entsetzen vieler Eltern das abgetragene Erdreich einfach auf dem jeweiligen Schulgelände vergraben.
Es sind aber nicht nur Schulhöfe in der Region um Fukushima und den Nachbarregionen radioaktiv kontaminiert. Die japanische Regierung hat mittlerweile eingeräumt, daß es falsch war, die Grenzwerte für Kinder heraufzusetzen. Nun müssen nach den neuen Kriterien selbst weit entfernte Schulhöfe dekontaminiert werden, etwa in Kashiwa nur 20 Kilometer nordöstlich der Stadtgrenze von Tokio.
Während Naoto Kan noch von einer zu schaffenden temporären Deponie redete, waren jedoch schon längst Fakten geschaffen worden. So deckte die japanische Tageszeitung Asahi bereits am 5. August auf, daß in den Bergen der Präfektur Fukushima alle paar Minuten Lastwagen Atommüll zu einer versteckten Deponie brachten. Die AnwohnerInnen wußten nicht, wozu die geheime Grube da sei, die Präfektur hatte nichts bekanntgegeben. Auf Anfrage des Asahi-Reporters sagte ein Beamter: "Wenn wir damit an die Öffentlichkeit gehen, bringen alle Leute ihren Müll dorthin." Er versicherte, die Grube sei nur "temporär".
Bei seinem Treffen mit Yuhei Sato überbrachte Naoto Kan zugleich die schlechte Nachricht, daß viele Evakuierte wegen der hohen Strahlung über Jahre oder Jahrzehnte nicht in ihre Heimatorte werden zurückkehren können.
Doch längst ist ein Teil der Evakuierten heimlich in die 30-Kilometer-Zone zurückgekehrt. Viele halten es auf die Dauer nicht in den Camps aus oder nutzen diese nur, um nachts nicht in radioaktiv kontaminierten Zonen schlafen zu müssen, während sie tagsüber in ihre Dörfer zurückkehren und ihre Felder bestellen. Doch nun wurde eine wenig praktikable Regelung bekannt: Orte, in denen die derzeit gemessene Strahlung 200 Millisievert pro Jahr überschreitet, bleiben mindestens 20 Jahre gesperrt, Orte mit 150 Millisievert pro Jahr mindestens zehn Jahre, so Goshi Hosono, der für die Verwaltung des Super-GAU zuständige Minister. Nach der Radioaktivitäts-Karte der Regierung bleiben rund die Hälfte aller Meßstellen innerhalb der 20-Kilometer-Sperrzone um die Atom-Ruinen des AKW Fukushima Daiichi unbewohnbar. In Okuma erreicht die Jahresdosis mehr als 500 Millisievert. Von den 80.000 Evakuierten müßte daher ein großer Teil daran gehindert werden, in ihre Heimat zurückzukehren.
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Weiteres starkes Erdbeben in Japan
Atom-Ruine in Fukushima angeblich nicht betroffen
(19.08.11)
Steigende Strahlungswerte
in Atom-Ruine Fukushima (2.08.11)
Verstrahltes Fleisch aus Fukushima
Liefer-Stop für japanische Rinder (19.07.11)
AKW Fukushima Daiichi
Erneute Explosion am 14. Juni? (16.06.11)
Stark erhöhte Radioaktivität
in Fukushima (4.06.11)
Fukushima: Der permanente Super-GAU
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Situation weitaus schlimmer als bislang dargestellt
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Hohe Radioaktivitäts-Werte (18.04.11)
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(10.04.11)
Aktuelle Hintergrund-Informationen
zur Reaktor-Katastrophe von Fukushima
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