Paris (LiZ). In den vergangenen zwei Jahrzehnten wuchs die Kluft zwischen Arm und Reich in fast allen Industriestaaten - und besonders in Deutschland. Dies belegt ein heute veröffentlichter OECD-Bericht.
Die Einkommenskluft zwischen Arm und Reich hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten laut den Zahlen der Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) in fast allen Industriestaaten vertieft. Einen Abbau der Einkommensunterschiede gab es nur in Frankreich, der Türkei und Griechenland. In Frankreich ist dies dem starken gewerkschaftlichen Widerstand gegen die neoliberale Politik von Staatspräsident Nicolas Sarkozy und den pseudo-sozialistischen Vorgänger-Regierungen zu verdanken. In der Türkei und Griechenland waren die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich zuvor allerdings im internationalen Vergleich besonders groß.
In Deutschland wuchs die Einkommenskluft zwischen Arm und Reich in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich stärker als in den meisten anderen Industrienationen. Besonders trug hierzu die neoliberale Politik von "Rot-Grün" in der Regierungszeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joseph Fischer zwischen 1998 und 2005 unter dem Etikett "Agenda 2010" bei.
Laut den Zahlen der OECD verdienten die zehn Prozent der Deutschen mit den höchsten Einkommen 2008 etwa achtmal so viel wie die untersten zehn Prozent. In absoluten Zahlen: Die Nettobezüge der oberen zehn Prozent beliefen sich auf durchschnittlich 57.300 Euro im Jahr, die der Geringverdiener hingegen auf nur 7.400 Euro (ohne staatliche Hilfsleistungen). Anfang der 1990er-Jahre hatte das Verhältnis noch bei sechs zu eins gelegen.
Ebenfalls an den OECD-Zahlen läßt sich ablesen, daß vor allem die Entwicklung der Löhne und Gehälter für die "Spreizung" sorgte. Die sogenannte Lohnschere zwischen den Spitzeneinkommen und den untersten zehn Prozent der Vollzeit-Arbeitenden hat sich in den vergangenen 15 Jahren um rund 20 Prozent erweitert. Dies steht in engem Zusammenhang mit dem starken Zuwachs von Teilzeitarbeit und befristeten Verträgen. Die Zahl der TeilzeitarbeiterInnen stieg in Deutschland seit Mitte der 1980er-Jahre von knapp drei auf mehr als acht Millionen.
Laut OECD-Bericht sind die verfügbaren Haushalts-Einkommen in Deutschland in den beiden vergangenen Jahrzehnten bis 2007 im Schnitt um 0,9 Prozent jährlich gestiegen. Davon profitierten vor allem die GutverdienerInnen, deren Einkommen im Schnitt um 1,6 Prozent stieg - während die NiedriglöhnerInnen nur einen Zuwachs von 0,1 Prozent verzeichneten und damit unter Berücksichtigung der Inflationsrate Einbußen zu verzeichnen hatten. In den vergangenen beiden Jahrzehnten sanken die Löhne und Gehälter trotz Lohnsteigerungen real erheblich, da die die gewerkschaftlich erkämpften Lohnsteigerungen immer unter der Inflationsrate blieben. In den vergangenen fünf Jahren ist sogar das reale Einkommen eines mittleren Angestellten bei Berücksichtigung der Inflation um rund sieben Prozent gesunken. (Siehe hierzu unseren Artikel vom 5.11.11)
Offenbar geht der soziale Abwärtstrend in den Industrienationen auch mit einer zunehmenden Vereinzelung einher. Es gibt mehr Alleinerzieher- und Single-Haushalte mit entsprechend niedrigem Einkommen. Zugleich belegt die OECD-Studie, daß immer weniger Menschen aus verschiedenen Schichten heiraten. In der OECD-Studie heißt es hierzu sarkastisch, das Modell "Chefarzt heiratet Krankenschwester" sei auf dem Rückzug.
Daß die soziale Durchmischung der Gesellschaft, die in Deutschland besonders mit der Bildungsreform der frühen 1960er-Jahre in Gang gekommen war, stark rückläufig ist, ist seit langem durch Zahlen belegt. Nicht zufällig liegt Deutschland bei den Bildungsausgaben deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. 40 Prozent eines Jahrgangs - so die politische Vorgabe - sollen für die höchste Sprosse deutscher Ausbildung - das Universitätsstudium - ausgesiebt werden. Doch heute ist die Situation in Deutschland so, daß von 100 Kindern mit Akademiker-Vater 83 durchs Sieb rutschen, während nur 23 Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien zu den Auserwählten zählen. Noch deutlicher wird die soziale Auslese, wenn Beamten-Kinder mit Arbeiter-Kindern verglichen werden: Ihre Chance auf ein Universitätsstudium ist fünfeinhalb mal so hoch wie die von Arbeiterkindern.
Im Resümee warnt der OECD-Bericht, die zunehmende Ungleichheit schwäche nicht nur die Wirtschaftskraft, sondern "gefährdet den sozialen Zusammenhalt und schafft politische Instabilität." Wichtigstes Mittel zum Abbau von Einkommensunterschieden sei eine Steigerung der Investitionen in Bildung und Weiterbildung.
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Reallöhne in Deutschland sinken weiter
Zuwächse von Inflation ausgefressen (5.11.11)
Renten: Minus auch in 2012
Inflation offiziell bei 2,5 Prozent (28.10.11)
Schuldenkrise in den USA
Kampf zwischen Elefant und Esel? (15.07.11)
Trotz Lohnerhöhungen:
Inflation bewirkt Minus (6.07.11)
Sozialabbau -
Renten seit 2001 real gekürzt (5.07.11)
Sozialabbau: Bufdis
bekommen weniger als Zivis (30.06.11)
Bundestagsabgeordnete wollen
mehr Diäten (27.06.11)
Starke Zunahme von "400-Euro-Jobs"
von "Rot-Grün" verursacht (27.04.11)
Frauen in Konzern-Vorstände?
Die realen Probleme bleiben ausgeblendet (8.03.11)
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(29.12.10)
Discounter Lidl für 10 Euro Mindestlohn
Einzelhandel fürchtet Ost-Konkurrenz (21.12.10)
Mißbrauch von Ein-Euro-Jobs?
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Von der Leyens Hartz-IV-Reform:
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50 Milliarden Euro
für Subventionierung des Niedriglohn-Sektors (13.08.10)
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Erneuter Sozialabbau
trotz Urteil des Bundesverfassungsgerichts? (2.08.10)
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zwischen Arm und Reich (23.06.10)
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"Nullrunde" heißt Minus (16.03.10)
DIW-Studie zum Vermögen in Deutschland
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(19.01.10)
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