Stuttgart (LiZ). Die Räumung des Stuttgarter Schloßgartens, wo für das Mega-Projekt "Stuttgart 21" rund 300 Bäume gefällt werden sollen, wurde für die Bevölkerung zu einem traumatischen Ereignis. Szenen wie sie bisher in Deutschland nur aus Gorleben, Wackersdorf oder Wyhl bekannt waren, haben friedliche DemonstrantInnen heute in Stuttgart erlebt: Ohne zwingenden Grund wurden von der Polizei Wasserwerfer, Schlagstöcke, Reizgas- und Pfeffer-Spray eingesetzt, um sie von einem überschaubaren Gelände zu entfernen. Offenbar ist der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus persönlich für den brachialen Polizei-Einsatz verantwortlich.
Fast 400 Menschen wurden nach Angaben eines Rettungsassistenten beim Polizei-Einsatz gegen die GegnerInnen von "Stuttgart 21", die sich schützend vor ihren Park stellen wollten, meist leicht, vielfach jedoch auch schwer verletzt. 320 von ihnen seien mit Augenverletzungen durch Pfeffersprays in einem provisorisch eingerichteten Camp für die Erstversorgung behandelt worden. Hunderte von Verletzten wurden in die umliegenden Krankenhäuser eingeliefert. Sieben Nasenbeinbrüche wurden verzeichnet. Die ersten 50 Opfer, so hieß es, seien SchülerInnen gewesen, die an einer angemeldeten Demonstration teilnahmen. Noch immer protestierten Tausende gegen die Räumung des Parks zum Zwecke von Baumfällarbeiten. Matthias von Herrmann, Sprecher der "Parkschützer", erwartet jede Stunde weiteren Zulauf.
Am Mittwoch abend hatte die Polizei damit begonnen AktivistInnen von den Bäumen zu holen. 13- bis 15-jährige SchülerInnen waren heute morgen um zehn Uhr zu einem angemeldeten und "genehmigten" Protestzug in den Stuttgarter Schloßgarten gekommen. Kurz darauf begann die Räumung mit Einsatz-Hundertschaften aus der gesamten Bundesrepublik. Mittenrein in die Menge von mehreren Tausend Menschen. In schwarzer Kampfmontur richteten die Einsatzkräfte das Reizgas-Spray gezielt auf die DemonstrantInnen, warfen die Menschen einfach um. Drei Wasserwerfer fegten mit ihrem Strahl die Menschen wie Puppen aus dem Weg. Eine Schülerin erlitt eine Gehirnerschütterung. Völlig durchnäßt konnte sich eine 71-Jahre alte Frau nur noch mit den Resten ihres Schirms in die hinteren Reihen retten. Aus ihrer Sicht sind ParteipolitikerInnen jeglicher Couleur unterschiedslos mit "Lügenpack" gleichzusetzen. Da die Polizei etliche Straßen im Bahnhofsumfeld gesperrt hatte, konnten Rettungsfahrzeuge nur verspätet verletzte DemonstrantInnen abtransportieren.
Peter Conradi, früherer SPD-Bundestagsabgeordneter (1972 bis 1998) und einer der Stuttgarter Honoratioren seiner Partei, zeigte sich angesichts der Polizei-Einsatzes im Schloßgarten fassungslos: "Die Polizei fährt hier ein, als müßte sie den CASTOR schützen." Unter den DemonstrantInnen befand sich auch der bekannte Krimi-Autor Wolfgang Schorlau. "Ich habe so etwas noch nie erlebt wie die Polizei gegen Schüler vorgeht," sagt er. "Ein Beamter hat einer etwa 15-Jährigen mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen." Er selbst habe einen Schlag auf den Hinterkopf abbekommen und habe jetzt heftige Kopfschmerzen. "Das habe ich in Stuttgart nicht für möglich gehalten," sagt Schorlau. Ein anwesender Pfarrer fragt laut: "Was sollen die Schüler denken? Was sollen sie von unserem Rechtsstaat halten, der sie von der Straße spritzt?"
Die frühere Ver.di-Landesvorsitzende Sybille Stamm hat beim Polizei-Einsatz etliche blaue Fecke davongetragen. Die 65-Jährige wurde ohne Vorankündigung von der Polizei eine Böschung hinuntergeworfen und anschließend getreten. In einem Sanitätszelt, wo sie verarztet wird sagt sie: "Das hier ist Bürgerkrieg."
Der frühere baden-württembergische SPD-Landes- vorsitzende und heutige Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Ulrich Maurer forderte Heribert Rech, Innenminister unter Regierungs-Chef Mappus, zum Rücktritt auf: "Wer versucht, angemeldete Schülerdemos mit Schlagstöcken, Reizgas und Wasserwerfern aufzulösen, hat mit der Demokratie gebrochen und muß als Innenminister seinen Hut nehmen."
In einer aktuellen Stellungnahme der 'Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21' heißt es: "Mappus läuft mit Wasserwerfer und Tränengas Amok gegen friedliche Stuttgart-21- Demonstranten." Der Einsatz von Wasserwerfern gegen friedliche DemonstrantInnen sei zutiefst empörend, ein "wahnsinniger Gewaltexzeß".
"Diesen brachialen und mit äußerster Gewalt vorgetragenen Angriff auf die Bürger wird das Projekt Stuttgart 21 politisch nicht überleben. Die Konsequenz von Hunderten von Verletzten, insbesondere Schüler, ist ein Skandal, den Ministerpräsident Mappus zu verantworten hat," sagt Axel Wieland, BUND-Regionalvorsitzender, der selbst vor Ort war und ist.
Ein Polizeisprecher erklärte, die BeamtInnen hätten versucht, "eine Gitterlinie" aufzustellen, um die Bauarbeiten zu sichern.
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