Stuttgart (LiZ). Trotz der exzessiven polizeilichen Gewalt bei der teilweisen Räumung des Stuttgarter Schloßgartens, blieb der Protest gegen "Stuttgart 21" weiter gewaltfrei. Am Freitag abend gingen nach Angaben der VeranstalterInnen über 100.000 Menschen gegen das Mega-Projekt auf die Straße und stellten damit einen neuen Rekord auf. Zunehmend macht sich der Protest am baden-württembergischen Ministerpräsidenten fest. Immer häufiger ist der Ruf "Mappus muß weg!" zu vernehmen.
Der Schloßgarten direkt neben dem bereits teilweise abgerissenen historischen Stuttgarter Hauptbahnhof konnte die Menschenmenge zum Auftakt der gestrigen Demo nicht fassen. Selbst die Polizei, die in den vergangenen Wochen mit grotesk niedrigen TeilnehmerInnen-Schätzungen aufgefallen war, mußte zugestehen, daß es sich um die bislang größte Demo in Stuttgart handelte. Am häufigsten zu hören waren neben "Mappus muß weg!" die Rufe "Lügenpack!" und "Schämt euch!" Unfaßbar ist für viele Menschen in Stuttgart die polizeiliche Gewalt bei der Räumung am Donnerstag mit Wasserwerfen und Schlagstockeinsatz. Es war der erste Einsatz eines Wasserwerfers in Stuttgar seit vierzig Jahren.
Aus Äußerungen vieler TeilnehmerInnen ist zu entnehmen, daß mit "Lügenpack" in aller Regel PolitikerInnen sämtlicher vier im Landtag vertretener Parteien gemeint sind. Auch die Linkspartei erntet nur wenig Vertrauen und ihre Resonanz unter den Protestierenden ist marginal. Vorrangig bezieht sich die Schmähung auf die über rund 15 Jahre zu beobachtenden Versuche, die BürgerInnen über die realen Konsequenzen und finanziellen Folgen von "Stuttgart 21" hinwegzutäuschen. Den Menschen hängt die Phrase zum Hals heraus, irgend etwas müsse ihnen nur besser "kommuniziert" werden.
Auch die Pseudo-Grünen, die sich schon seit langem gegen "Stuttgart 21" positionieren, werden zunehmend kritisch gesehen. Immer mehr spricht sich herum, daß auch diese Partei im Falle einer Regierungsbeteiligung kaum anders agieren werde als in Hamburg. Vielen stößt insbesondere das Verhalten der "grünen" Protagonisten Winfried Kretschmann und Boris Palmer auf, die für eine Teilnahme an dem von Ministerpräsident Stefan Mappus und Bahn-Chef Rüdiger Grube angebotenen "Runde-Tisch"-Gespräch warben und die von den Bürgerinitiativen genannte Vorbedingung eines Bau-Stops ignorierten. Die Vereinnahmung ihres Protests und der Versuch der Spaltung der Bürgerinitiativen kostete die "Grünen" viele Sympathien.
Kaum jemand glaubt dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten noch, wenn er nach dem Polizei-Einsatz vom Donnerstag im "heute journal" des ZDF erneut von seiner "ausgestreckten Hand" fabuliert und erklärt, er wolle den Dialog und "ernst nehmen, was die Demonstranten sagen."
Das Aktionsbündnis gegen "Stuttgart 21" lehnt ein Gespräch weiterhin ab. "Herr Mappus will uns die Hand reichen? So wie gestern, mit Schlagstock und Pfefferspray?" fragt Gangolf Stocker, Sprecher der Bürgerinitiative 'Leben in Stuttgart - Kein Stuttgart 21'. "Mit Falschspielern verhandeln wir nicht", sagt Carola Eckstein, Sprecherin der Initiative 'Parkschützer'. Zudem gelte weiter, daß nur nach einem Bau-Stop Gespräche möglich seien. "Über was sollen wir mit ihm sprechen? Über das Wetter?" Das Vorgehen der Polizei am Donnerstag gegen die "Stuttgart 21"-Gegner habe Mappus zu verantworten. "Er hat Fakten geschaffen, nur um seine Macht zu demonstrieren."
Auffallend und selbst von den Mainstream-Medien nicht zu leugnen war auch am Samstag die Zusammensetzung der Demonstration aus Menschen der verschiedensten Gesellschaftsschichten. Viele StuttgarterInnen, die bislang noch nie an einer Demonstration teilnahmen, reihten sich nach dem Entsetzen über die Bilder vom Donnerstag gestern in Menge der Protestierenden ein. Was sich viele bislang nicht getraut hätten, sprechen sie nun in die Mikrophone und vor TV-Kameras: "Mappus muß weg nach dem, was gestern passiert ist."
So war etwa auch ein 50-jähriger Rechtsanwalt aus Esslingen mit seinen beiden Kindern auf der gestrigen Demo dabei und bekannte offen: "Ich bin das zweite Mal überhaupt auf einer Demonstration." Als "fatal" bezeichnete er das Verhalten der Polizei und den Umgang der ParteipolitikerInnen mit dem Protest. "Mich ärgert die Brutalität, mit der vorgegangen wird." Und eine 44-Jährige, die ebenfalls mit zwei Kindern an der gestrigen Demo gegen "Stuttgart 21" teilnahm, meinte: "Das geht in einer Demokratie überhaupt nicht, wenn Bürger friedlich und demokratisch protestieren."
Mappus bekräftigte derweil seine Unterstützung für die Polizei in Stuttgart. "Die Polizei hat reagiert, nicht agiert", sagte der Ministerpräsident. Er habe Vertrauen in die Polizeiführung und diese habe vor Ort über den Einsatz zu entscheiden. Es sei am Donnerstag darum gegangen, eine Baustelle abzusichern und da die PolizistInnen vor Ort "mit Barrikaden empfangen" worden seien, hätten sie sich gewehrt. Noch bis kurz vor dieser Äußerung von Mappus hatte Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech die Falschmeldung verbreitet, DemonstrantInnen hätten mit Steinwürfen den Einsatz vom Donnerstag provoziert - es waren ein paar Kastanien. Auch Landes-"Umwelt"-Ministerin Tanja Gönner schob die Schuld auf die DemonstrantInnen, die "bewußt Kinder nach vorne geschoben" hätten. Zwar wurde die Behauptung von den Steinwürfen vom Innenministerium zwischenzeitlich kleinlaut zurückgenommen - doch Mappus wußte nichts besseres, als den Unmut der Menschen neu anzuheizen, indem er daraufhin herablasend von einem "Sprühregen" sprach, dem die BürgerInnen durch seine Wasserwerfer ausgesetzt worden seien.
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Anmerkungen
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