Tokio (LiZ). Mitte Dezember hatte der für den Super-GAU von Fukushima verantwortliche Betreiber-Konzern TEPCO mit Regierungsvertretern im Schlepp- tau eine "Kaltabschaltung" verkündet. In den vergangenen Tagen ist jedoch die Temperatur in der Ruine von Block II über die für einen solchen Zustand maximale Temperatur angestiegen.
Unter einer Kaltabschaltung ist in der Nukleartechnik zu verstehen, daß in einem intakten Reaktordruckbehälter beim ordnungsgemäßen Herunterfahren eine Temperatur von unter 100 Grad Celsius erreicht ist und die von der Nachzerfalls-Aktivität erzeugte Wärmemenge abgeführt werden kann, sodaß dauerhaft die Marke von 80 Grad Celsius unterschritten wird. Bei einem zerstörten Reaktor von Kaltabschaltung zu sprechen, ist schlicht absurd. Offenbar sollte der seltsame Auftritt vor acht Wochen lediglich dazu dienen, die japanische Bevölkerung zu beruhigen.
Nun liegen Informationen vor, wonach in den vergangenen Tagen die Temperatur im Inneren der Ruine von Block II auf 82 Grad Celsius gestiegen ist. Eine Erklärung hierfür kann TEPCO nicht bieten. Für den Temperaturanstieg sind zwei mögliche Ursachen denkbar. Zum einen kann es durch Trümmerteile verursacht eine Verstopfung oder ein Hindernis bei der nach wie vor weitgehend unkontrolliert ablaufenden Kühlung des Reaktorkerns durch eingepumptes Wasser gekommen sein. Die Nachzerfalls-Wärme kann in diesem Fall nicht ausreichend abgeführt werden und dies verursacht einen Temperaturanstieg. Als zweite mögliche Ursache kommt in Betracht, daß es zu einer - vielleicht lokal begrenzten - Rekritikalität der Kernschmelze gekommen ist. Diese hatte sich ganz oder teilweise durch den Boden des stählernen Reaktordruckbehälters gefressen und befindet sich - bisher nicht näher lokalisiert - irgendwo im oder unter dem Fundament von Block II. Vermutlich weist die lavaähnliche Masse der geschmolzenen Brennelemente noch eine Temperatur von über 3000 Grad Celsius auf.
Nach wie vor geben weder TEPCO noch die japanische Regierung Daten über die Messung von radioaktivem Jod heraus. Denn aus diesen Daten könnte darauf geschlossen werden, ob und in welchem Umfang aktuell Kernspaltungen in der Ruine stattfinden. Die Reaktor-Ruinen können nach wie vor wegen der extremen Strahlenbelastung und hoher Temperaturen nicht betreten werden.
Nach eigenen Angaben hatte die TEPCO-Mannschaft vor Ort schon seit dem 1. Februar einen Temperaturanstieg in der Ruine von Block II registriert. Am Dienstag, 7. Februar, sei damit begonnen worden, mehr Kühlwasser einzuleiten - zu diesem Zeitpunkt hatte die Temperatur laut TEPCO 73 Grad erreicht. Falls diese Aussagen tatsächlich zutreffen und es überhaupt möglich ist, den Zufluß zu erhöhen, bietet eine solche Maßnahme "im Blindflug" allerdings keine Gewähr, daß das Wasser auch dorthin gelangt, wo Wärme abgeleitet werden müßte.
Und wieder heißt es TEPCO, es werde nun Borsäure eingeleitet. Dies ist nicht mehr als der Versuch, den Eindruck zu erwecken, die Vorgänge im Inneren der Ruine könnten gesteuert werden. Tatsächlich jedoch deutet diese Aussage viel mehr darauf hin, daß der vermeintlich erhöhte Wasserdurchsatz ohne die erwünschte Wirkung geblieben ist. Borsäure dient in der Reaktortechnik dazu, Kernreaktionen abzubremsen. Es ist offensichtlich, daß die Lage vor Ort weiterhin außer Kontrolle ist.
TEPCO erhält derweil weitere Milliarden an Staatshilfen. Die japanische Regierung beschloß heute zusätzliche Hilfen in Höhe von 689,4 Milliarden Yen (6,7 Milliarden Euro), damit der Konzern überhaupt weiter den Entschädigungszahlungen nachkommen kann.Die Summe der bewilligten Steuergelder beläuft sich bereits auf mehr als 1,5 Billionen Yen (rund 14 Milliarden Euro). Allgemein wird erwartet, daß TEPCO verstaatlicht wird, um so die Finanzmittel für die anstehenden Entschädigungszahlungen und Aufräumkosten zur Verfügung zu stellen. Unter den derzeit in Japan gegebenen politischen Bedingungen können die übrigen Atom-Konzerne nicht zu Zahlungen herangezogen werden.
Anmerkungen
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