Ist Putin der Mörder Litwinenkos?
Britischer Untersuchungs-Bericht
verbreitet Spekulationen
London (LiZ). Am 23. November 2006 starb Alexander Litwinenko im Alter von 43 Jahren in London an den Folgen einer Vergiftung mit radioaktivem Polonium-210. Da es sich bei Litwinenko um einen russischen Regime-Gegner handelte, geriet der russische Geheimdienst FSB in Verdacht, hinter dem Attentat zu stecken. Naheliegend wäre dann die Schlußfolgerung, der damaligen und heutigen russischen Präsidenten Wladimir Putin sei zumindest Mitwisser an einem politischen Attentat gewesen.
Einigermaßen sicher konnte bis heute rekonstruiert werden, daß Alexander Litwinenko am 1. November 2006 mit Polonium-210 vergiftet wurde. An diesem Tag traf er sich mit den beiden Russen Andrej Lugowoi und Dmitri Kowtun in der Hotelbar des Millennium-Hotels im Londoner Stadtteil Mayfair. Mutmaßlich hat er bei diesem Treffen eine Tasse Grüntee getrunken, in welchen zuvor einige Milligramm Polonium-210 appliziert wurden. Möglich ist aber auch, daß Litwinenko an diesem Tag - vor oder nach dem Treffen mit Lugowoi und Kowtun - vergiftet wurde. Die allzu auffälligen Spuren mit Polonium-210, die jene beiden Russen quer durch London bis in ein Flugzeug hinterließen, das sie am 3. November auf dem Rückflug nach Rußland benutzten, könnten mit Absicht gelegt worden sein.
Bereits am 2. November mußte sich Litwinenko wegen heftiger Symptome wie Erbrechen, Übelkeit, starken Bauchschmerzen und Atemnot in eine Klinik begeben. Seit Gesundheitszustand verschlechterte sich dramatisch. Die ÄrztInnen standen zunächst vor einem Rätsel. Um die Welt gingen damals die Bilder des sterbenden Litwinenko, der schon seine Haare verloren hatte. Am 23. November 2006 trat der Tod infolge innerlicher Verstrahlungen ein - in Litwinenkos Leiche wurde Polonium-210 festgestellt.
Angeblich fand die britische Polizei Spuren von Polonium-210 in den Hotel-Zimmern, in denen sich Lugowoi und Kowtun nach dem Treffen am 1. November bis zu ihrem Abflug aufgehalten hatten. Auch auf den Flugzeug-Sitzen der beiden Männer sei der Stoff nachgewiesen worden. Sowohl Lugowoi als auch Kowtun waren nachweislich selbst mit Spuren von Polonium-210 kontaminiert und mußten sich in Moskau in Behandlung begeben. Dies ist keinesfalls ein Beweis, daß Litwinenko zum gleichen Zeitpunkt wie Lugowoi oder auch Kowtun mit dem Gift in Berührung kam. Die geringe tödliche Dosis ist bei einem so starken Gift wie Polonium-210 kaum sichtbar und fällt nicht etwa auf wie ein Rotwein-Tropfen auf einem weißen Hemd.
Lugowoi und Kowtun stehen nach glaubwürdigen Berichten zwar im Verdacht, für Geheimdienste gearbeitet zu haben. Dies spricht jedoch eher gegen die Tatsache, daß die beiden Männer als "radioaktive Marker" eine Spur durch halb London und zudem mit Polonium-210 auf den Flugzeug-Sitzen quasi eine Fährte nach Moskau legten. Bei erfahrenen Geheimdienstlern wäre eher zu erwarten, daß sie sich bei einem Mord-Anschlag mit Polonium-210 selbst zu schützen wissen. Zumindest ebenso wahrscheinlich wie die von britischer Seite vertretene These, Lugowoi und Kowtun seien die (unmittelbaren) Mörder, ist die These, daß die beiden benutzt wurden, um einen "roten Hering" zu legen. Eines ist zumindest klar: Der Mord hatte einen hohen Preis, denn das verwendete Polonium-210 muß bei der als Minimum anzunehmenden Menge rund 6 Millionen Euro (10 Millionen US-Dollar) gekostet haben.
Schon Ende 2006 wurde in etlichen Medien die These verbreitet, hinter dem Mord an Litwinenko stehe der russische FSB und damit Präsident Putin. Daher ist die Frage zu untersuchen, welches Motiv der russische Geheimdienst oder die russische Regierung am Tod Litwinenkos - fast sechs Jahre nach dessen Flucht nach London - haben konnte.
Der Lebenslauf Litwinenkos ist nicht ohne Widersprüche. Ab 1988 arbeitete er für den sowjetischen Geheimdienst KGB und später - in dessen Nachfolge - für den russischen Geheimdienst FSB. Eine "Karriere", die bis dahin jener Putins gleicht. 1998 trat Litwinenko dann allerdings als Gegner der russischen Regierung und dessen neuem Präsidenten Putin in die Öffentlichkeit. Er beschuldigte Geheimdienst und Regierung, für Entführungen und Morde als "false-flag"-Aktionen verantwortlich zu sein. Entsprechende "KritikerInnen" werden im "Westen" gerne und häufig als "Verschwörungstheoretiker" bezeichnet.
Auf der Pressekonferenz in Moskau im Jahr 1998 beschuldigte Litwinenko – zusammen mit Michail Trepaschkin und einigen maskierten angeblichen Geheimdienst-Mitarbeitern – die Führung des Geheimdienstes FSB der Anstiftung zum Mord. Sie hätten von dieser den Auftrag bekommen, den damaligen Sekretär des Staatsicherheitsrats, Boris Beresowski (alias Platon Elenin), zu töten. Bereits 1994 hatte Beresowski in seinem Auto einen Sprengstoff-Anschlag überlebt.
Beresowski hatte nach dem Zusammenbruch der Sowjet-Diktatur ein Milliarden-Vermögen zusammengerafft und gehörte 1996 zur sogenannten "Sieben-Bankiers-Bande" (Semibankirschtschina), der es mit viel Geld gelang, den in Umfragen bei 4 Prozent liegenden alkohol-abhängigen Boris Jelzin im zweiten Wahlgang noch einmal ins Präsidenten-Amt zu hieven. 1999 gehörte Beresowski zu dem kleinen Kreis von Oligarchen, die dem vermeintlich eben so leicht wie Jelzin steuerbaren Wladimir Putin den Weg ins Amt des russischen Ministerpräsidenten ebneten. Doch mit Putin hatten sie sich verrechnet - dieser setze relativ schnell das ansonsten oft bloß beschworene "Primat der Politik über die Ökonomie" durch. Bereits im August 2000 mußte Beresowski zurücktreten. Zu diesem Zeitpunkt gehörten Beresowski ORT, der größte und flächendeckende TV-Sender Rußlands, der TV-Kanal TW-6 und drei Tageszeitungen (darunter die Nesawissimaja Gaseta und der Kommersant). Im November 2000 ging Beresowski unbehelligt und als reicher Mann ins Londoner Exil. Großbritannien gewährte ihm im September 2003 politisches Asyl.
Litwinenko war schon am 1. November 2000 in London eingetroffen und hatte dort politisches Asyl beantragt. Beresowski kaufte Litwinenko ein Haus in London und finanzierte seine dortige Tätigkeit als "Journalist und Buchautor". Doch hatte Litwinenko aus Rußland fliehen müssen? Nach der Presse-Konferenz in Moskau im Jahr 1998 wurde er erst im März 1999 verhaftet - in einem Strafverfahren im November desselben Jahres aber freigesprochen. Zwar wurde er noch im Gerichtssaal erneut festgenommen, aber wenige Wochen später aus der Haft entlassen. Angeblich mußte er sich bei der Haftentlassung verpflichten, das Land nicht zu verlassen. Doch offenbar wurde er vom FSB zumindest nicht sonderlich scharf überwacht, denn im Jahr 2000 konnte er (illegal?) zusammen mit seiner Frau und seinem 3-jährigen Sohn nach London fliegen. Die in den Jahren zwischen 2000 und 2006 erhobenen Anschuldigungen gegen den russischen Geheimdienst und die russische Regierung waren zu großen Teilen skurril und erregten kaum mehr öffentliches Interesse. All dies liefert zumindest keinen Beweis für ein Mord-Motiv, das der russischen Seite unterstellt wird.
Der nun veröffentlichte britische Untersuchungsbericht enthält eben so wenig irgend einen Beweis. Dennoch behauptete Richter Robert Owen bei dessen Präsentation, den Giftmord an Litwinenko habe der russische Geheimdienst FSB in Auftrag gegeben und Rußlands Präsident Wladimir Putin habe die Ermordung Litwinenkos "wahrscheinlich" gebilligt. Angeblich stützt sich die von Owen geführte Untersuchung auf Dossiers des britischen Geheimdienstes MI6 sowie eine Expertise des US-amerikanischen FBI über die Herkunft des verwendeten Polonium-210. Da diese "Erkenntnisse" jedoch nicht veröffentlicht wurden, ist es lediglich eine Frage des Glaubens, ob sie als Beweise zu werten sind.
Die Behauptungen Owens werden von russischer Seite zurückgewiesen. Auch Lugowoi und Kowtun, die des Mordes an Litwinenko beschuldigt werden, bestreiten bis heute jede Beteiligung. Bereits 2007 hatte Lugowoi bei einer Presse-Konferenz in Moskau in Anwesenheit Kowtuns erklärt, er sei in London ohne sein Wissen mit Polonium-210 in Kontakt gebracht worden.
Die britische Generalstaatsanwaltschaft hatte im Mai 2007 eine Anklage gegen Lugowoi wegen Mordes empfohlen. Der damalige Premierminister Tony Blair forderte Rußland daraufhin auf, die "Regeln des Gesetzes" zu respektieren und Lugowoi auszuliefern. Gesetzliche Grundlage ist in Rußland - ebenso wie in den USA - , keine Staatsangehörigen auszuliefern. Dennoch hatte die russische Regierung - vergeblich - einen Austausch Litwinenko gegen Beresowski vorgeschlagen. Beresowski solle sich in Moskau wegen etlicher Anklagepunkte vor Gericht verantworten. Eine Einigung kam nie zustande. Beresowski wurde am 23. März 2013 in seinem schwerbewachten Haus in Ascot erhängt aufgefunden.
Anmerkungen
Siehe auch unseren Artikel:
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