2.01.2018

Silvesternacht 2015/2016 - Köln - Domplatz
Versuch einer Bilanz

Die Schlacht von Omdurman - Grafik: DAJ - Lizenz: gemeinfrei
In den vergangenen beiden Jahren konnte die Rechte in Deutschland mit Hilfe der Mainstream-Medien ein "Wording" durchsetzen, das mit Begriffen suggeriert, die Übergriffe auf dem Kölner Domplatz in der Silvesternacht 2015/2016 würden sich in der Intensität und Quantität deutlich von vergleichbaren Übergriffen wie etwa beim Münchner Oktoberfest oder dem Cannstatter Volksfest abheben. Wie ist die Beweislage zwei Jahren nach jener Silvesternacht?

In Wikipedia ist in einem eigens zum Thema "Sexuelle Übergriffe in der Silvesternacht 2015/16" geschaffenen Eintrag gleich zu Beginn folgende unbelegte Behauptung zu finden: "In der Silvesternacht 2015/2016 kam es in Köln im Bereich Hauptbahnhof und Kölner Dom zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen durch Gruppen junger Männer vornehmlich aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum. In vielen Fällen wurden sowohl Sexualdelikte als auch Eigentums- und Körperverletzungsdelikte verübt." Um beurteilen zu können, was wirklich in dieser Nacht vor sich ging, ist jedoch entscheidend, ob zwei oder ob zwanzig Frauen auf dem Kölner Domplatz solchen Übergriffen ausgesetzt waren.

Für jede einzelne Frau, die Übergriffen ausgesetzt war, wie sie im Zusammenhang mit der Silvesternacht 2015/16 beschrieben wurden, ist zunächst irrelevant, wie viele andere Frauen ebenfalls betroffen waren. Diese Umstände ändern selbstverständlich nichts an dem ihr zugefügten Unrecht. In Hinblick auf die Debatte, ob durch Flüchtlinge und Asylsuchende in Deutschland das Risiko für Frauen steigt, Opfer sexueller Übergriffe und/oder von Raubdelikten zu werden, sind diese Umstände allerdings relevant. Falls tatsächlich von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Deutschland mehr Gewalt in der beschriebenen Weise ausgeht, wäre damit auch offenkundig, daß das Risiko für Frauen steigt, wenn deren Zahl zunimmt.

Die Art und Weise wie die Vorgänge auf dem Kölner Domplatz in der Silvesternacht 2015/16 in den vergangenen 24 Monaten in der Öffentlichkeit behandelt wurden, hat nun allerdings - unter anderem - dazu geführt, daß es einen mehrheitlichen Umschwung in der öffentlichen Wahrnehmung von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Deutschland gab. Die weit überwiegend freundliche Einstellung und die "Willkommenskultur" der Jahre 2013, 2014 ist bei einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung in Angst und Ablehnung umgeschlagen. Doch beruht dieser Umschwung auf Fakten oder auf Meinungsmache?

In dem genannten Wikipedia-Beitrag heißt es weiter: "Die Opfer beschrieben später in Interviews…" Belegt wird dieser Satz allein durch einen verlinkten BBC-Artikel vom 7.01.16, der deutlich tendenziös ist. Darin heiß es zu Beginn, mehr als 100 Frauen und Mädchen hätten über sexuelle Angriffe und Raubüberfälle durch Banden von Männern in Köln in der Silvesternacht berichtet. Dies trifft allerdings schon mal nicht zu. Denn zu diesem Zeitpunkt lagen weniger als 20 Aussagen von namentlich identifizierbaren Betroffenen vor. Alle anderen Aussagen - insbesondere nach dem 4. Januar 2016 - können verleumderische Aussagen aus dem rechtsextremen Spektrum sein. Es gibt eine Vielzahl von Beispielen sowohl aus dem rechts- als auch aus dem linksextremen Milieu, die belegen, daß Menschen in einer aufgeheizten Stimmung mit erfundenen Geschichten zur Polizei gingen und dort Anzeige erstatteten.

Im Weiteren werden in diesem BBC-Artikel lediglich anonyme Aussagen kolportiert. Da mag mit hoher Wahrscheinlichkeit an der ein oder anderen Aussage was dran sein - quantitativ sagt dies aber nichts darüber aus, ob die Situation in der "Kölner Silvesternacht" tatsächlich gefährlicher war als etwa in einer beliebigen Nacht auf dem Münchner Oktoberfest… Für eine objektive Beurteilung der Beschuldigungen, die nun seit 24 Monaten wiederholt und wiederholt werden, trägt dieser BBC-Artikel rein gar nichts bei. Die Tendenz dieses Artikels zeigt sich nicht allein darin, daß ausschließlich anonyme Aussagen zitiert werden, sondern auch darin, daß bereits in einem der ersten drei Sätze ein (unbegründeter) Zusammenhang zum Zustrom ("influx") von mehr als einer Million ("more than a million" - diese Zahl stellte sich mittlerweile als Übertreibung heraus) "Migranten und Flüchtlingen" konstruiert wird.

Beigetragen zu der sich selbst mehr und mehr anheizenden Spirale an Gerüchten hat sicherlich der (gelinde gesagt) seltsame Umgang der Kölner und der nordrhein-westfälischen Polizei mit der Situation und mit den Berichten von - teils anonymen teils von der Polizei als Zeuginnen namentlich registrierten - Frauen. Ohne weiter nachzuprüfen wurde von einer autorisierten Polizeisprecherin am 1. Januar 2016 verlautbart, es sei nur eine einzige Straftat mit sexuellem Hintergrund verzeichnet.

Durchaus korrekt referiert Wikipedia, daß am 1. Januar (13:21 Uhr) ein Artikel im Kölner Stadtanzeiger unter der Überschrift "Sexuelle Belästigung in der Silvesternacht – Frauen im Kölner Hauptbahnhof massiv bedrängt" erschien. Weiter laut Wikipedia: "Im Laufe des Tages gingen bei der Redaktion weitere E-Mails von Zeugen und Opfern ein, die Polizei bestätigte die Darstellungen jedoch auch weiterhin nicht."

Nirgendwo findet sich ein hieb- und stichfester Hinweis für die Behauptung, die Kölner Polizei, die Kölner Polizeiführung oder insbesondere Polizeipräsident Wolfgang Albers (der kurz danach am 8. oder 9. Januar als "Bauernopfer" von der "rot-grünen" NRW-Landesregierung in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde), hätten etwas vertuschen wollen oder hätten gar gezielt Informationen unterschlagen, um so negative Aussagen über "Personen aus dem nordafrikanischen-arabischen Raum" zu vermeiden. Es wurde ja in der Folgezeit von rechts immer wieder behauptet, die Kölner Polizei habe aufgrund von "political correctness" versucht, Informationen zu unterschlagen.

In dem zitierten Wikipedia-Eintrag heißt es im Abschnitt 'Juristische Aufarbeitung' - zwischen etlichen Abschnitten, die in ihrem Umfang offensichtlich dem Zweck dienen, das Ganze mit leerem Stroh zu füllen und unübersichtlich zu machen:

"Bis Juli 2016 wurden zu den Sexualdelikten in Köln lediglich zwei Männer zu Bewährungsstrafen verurteilt. Als Grund für die ernüchternde strafrechtliche Bilanz sieht das BKA „Ermittlungshemmnisse“: Es habe kein geeignetes Bildmaterial gegeben, die Frauen konnten die Täter nur schlecht beschreiben.[59]
Bis Oktober 2016 gab es vor dem Kölner Amtsgericht 19 Verhandlungen gegen 22 Angeklagte. Dabei wurden Strafen zwischen 480 Euro Geldstrafe und 20 Monaten Haft ohne Bewährung verhängt. Wegen sexueller Nötigung wurde lediglich in einem Verfahren verurteilt, in einem weiteren wegen Beleidigung auf sexueller Grundlage durch Grapschen. Die meisten anderen Anklagen erfolgten wegen Diebstahlsdelikten. Bei den Angeklagten handelte es sich überwiegend um Nordafrikaner. Elf Verfahren waren rechtskräftig abgeschlossen, gegen acht Urteile wurden Rechtsmittel eingelegt. Vier weitere Verfahren endeten ohne Gerichtsverhandlung mit Strafbefehlen. Im Zusammenhang mit der Silvesternacht waren rund ein Dutzend weiterer Verfahren anhängig.[60]
Bis Ende November 2016 wurden nach Angaben des nordrhein-westfälischen Innenministeriums nach insgesamt 1205 Strafanzeigen nur sechs Täter verurteilt, einer davon noch nicht rechtskräftig. Das Amtsgericht Köln verhängte Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr und neun Monaten, die meisten davon zur Bewährung. Viele Verfahren wurden eingestellt, nachdem kein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte.[61]"

Dies steht in krassem Widerspruch zu dem zitierten Satz, mit dem die Einleitung beginnt und in dem von "zahlreichen sexuellen Übergriffen" zu lesen ist - so als handele es sich um eine bewiesene Tatsache. Insgesamt ist dieser Wikipedia-Eintrag tendenziös (und von daher insgesamt sehr lesenswert!) - einer der Höhepunkte darin ist ein Zitat des als "Historiker und Gewaltforscher" bezeichneten Rechtsextremisten Jörg Baberowski.

Der Druck von rechts auf die deutschen Mainstream-Medien, diese hätten zwischen dem 1. und 4. Januar 2016 gezielt Meldungen über "die Kölner Silvesternacht" unterschlagen, war offenbar sehr groß. So knickte etwa der stellvertretende Chefredakteur der 'heute'-Sendung des ZDF, Elmar Theveßen, am 4. Januar ein und sagte: "Die Nachrichtenlage war klar genug. Es war ein Versäumnis, dass die 19-Uhr-heute-Sendung die Vorfälle nicht wenigstens gemeldet hat." Die "Nachrichtenlage" ist jedoch bis heute nicht klar - mehr noch: Die Behauptungen, daß überdurchschnittlich zahlreiche sexuelle Übergriffe und/oder Raubüberfälle in jener Nacht im Bereich zwischen Hauptbahnhof und Kölner Dom stattgefunden hätten, sind bis heute nicht belegt.

Wie sehr Meinung statt Fakten das öffentliche Bewußtsein prägten, zeigte sich bereits zwölf Monate später bei den Kontrollen am Kölner Bahnhof, die den Zustrom von "Nafris" auf den Kölner Domplatz beschränken sollten. Als "Nafris" werden im Polizei-Jargon junge Männer aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum bezeichnet - eben jene, denen die "zahlreichen" Übergriffe in "der Kölner Silvesternacht" zugeschrieben wurden. Bezeichnender Weise veröffentlichte die Kölner Polizei Mitte Januar 2017 - zwei Wochen nach jenen Kontrollen - Informationen aus denen vorherging, daß anders als 2015/2016 und entgegen anfänglichen Angaben, die in der Innenstadt und im Bahnhof kontrollierten Personen mehrheitlich nicht nordafrikanischer Herkunft waren, sondern hauptsächlich Staatsbürger des Irak, Syriens und Afghanistans.

Ebenso wie bei einer einzelnen Person in dubio pro reo gelten muß, gilt dies auch für die (überdurchschnittlich zahlreich?) in jener Silvesternacht 2015/2016 im Bereich zwischen Hauptbahnhof und Kölner Dom anwesenden jungen Männer vermeintlich nordafrikanischer oder arabischer Abstammung. 24 Monate nach den Vorfällen der Silvesternacht 2015/2016 auf dem Kölner Domplatz muß nüchtern anhand der Fakten die Bilanz gezogen werden, daß sich diese Vorfälle qualitativ und quantitativ in keiner Weise von ähnlichen - und ebenso widerwärtigen - Vorfällen bei Veranstaltungen wie dem Münchner Oktoberfest unterscheiden - außer: Dort sind in der Regel deutsche Männer die Täter. Und bislang ist selbst Alice Schwarzer noch nicht auf die Idee gekommen, die Ausweisung aller Männer aus Deutschland zu fordern.

 

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Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      Schulz rückt "S"PD nach rechts
      Warnung vor "hohen Flüchtlingszahlen" (25.07.17)

      65,6 Millionen Menschen auf der Flucht
      Höchste Zahl seit Menschengedenken (19.06.17)

      Festung Europa: Weiterhin sterben
      Flüchtlinge im Mittelmeer (2.05.17)

      "Schluß mit Ausreden!"
      "Öffnet die Grenzen!"
      300.000 demonstrieren in Barcelona für humane
      Flüchtlings-Politik (18.02.17)

      "Schnellere Abschiebungen!"
      Strobl macht Propaganda für AfD (28.11.16)

      Innenminister de Maizière rudert zurück
      70 Prozent aus dem Zauber-Zylinder (18.06.16)

      Flüchtlingszahlen weiter abgesenkt
      UN: 700 Flüchtlinge blieben im Mittelmeer (30.05.16)

      Nach Brandanschlag auf Flüchtlings-Unterkunft
      Verurteilung wegen versuchten Mordes (17.03.16)

      Flüchtlinge als Geheimdienst-Spitzel?
      Kuhhandel aufgedeckt (30.01.16)

      Österreich: Obergrenze für Flüchtlinge
      Bundeskanzler Faymann färbt "S"PÖ braun (20.01.16)

      Wagenknecht auf den Spuren Lafontaines
      Flüchtlings-Obergrenze sei schon "fast erreicht"
      (13.01.16)

      Ja zu Bundeswehr-Einsatz im Syrien-Krieg
      Sternstunde des Parlamentarismus (4.12.15)

      Gerüchte gegen Flüchtlinge...
      verbreitet und geglaubt (19.11.15)

      BKA: Kriminalität bei Flüchtlingen
      nicht höher als bei Deutschen (13.11.15)

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      Asylheime brennen
      in BaWü und MecPomm (20.09.15)

      "Kriegs-und Ausbeutungspolitik"
      Offener Brief von Jürgen Todenhöfer (26.08.15)

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      in Freital (25.07.15)

      Europa mordet
      Heute: 700 im Mittelmeer
      und Zehntausende in Afrika (19.04.15)

      Europa mordet
      Verhungern in Afrika
      Ertrinken im Mittelmeer (15.04.15)

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      Polizeigewerkschaft beklagt Staatsversagen (29.09.14)

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      Massenmord im Mittelmeer (15.09.14)

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      Flüchtlinge aus Niger in Sahara verdurstet (31.10.13)

      Mord an Flüchtlingen
      Barroso auf Lampedusa ausgebuht (9.10.13)

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      Über 60 Flüchtlinge ermordet (3.10.13)

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