Mieten zu hoch
bei stagnierenden Einkommen
Berlin (LiZ). Laut einer Studie der empirica AG im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung rutschen viele Familien in deutschen Großstädten wegen geringer Einkommen bei gleichzeitig hohen Wohnungsmieten unter den Hartz-IV-Satz. Die Unterschiede sind von Stadt zu Stadt teils extrem.
Die Ursache sind die seit über zwanzig Jahren real sinkenden Löhne. Ein immer höherer Anteil armer Familien muß Mieten zahlen, die im Gegensatz zu den Löhnen entsprechend der Inflationsrate anstiegen. Die Durchschnittslöhne stiegen in Deutschland netto weniger als die Inflationsrate - wurden also in den vergangenen beiden Jahrzehnten abgesenkt. Laut der empirica-Studie erhöht diese sich immer weiter öffnende Schere in mehr als jeder zweiten größeren Stadt das Armutsrisiko von Kindern.
Nun wird allerdings mangels Analyse der Ursache die falsche Behauptung verbreitet, es fehle an "bezahlbaren" Wohnungen, die für Familien geeignet und auch bei niedrigem Einkommen erschwinglich sind. Hintergrund hierfür ist die Absicht, erneut den "sozialen Wohnungsbau" anzukurbeln. Diese Schein-Lösung hat schon in früheren Zeiten keine nachhaltig positive Wirkung gehabt und diente lediglich dem Interesse der Bauindustrie. Ein weiterer staatlich geförderter Miet-Wohnungsbau würde den ohnehin irrsinnig hohen Flächenverbrauch anheizen und die Zerschneidung der Landschaft und Umweltzerstörung weiter steigern.
In Deutschland stehen pro Kopf 43 Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung. Dies zeigt, daß es sich allein um ein Verteilungs-Problem handelt. Soziale Politik müßte daher bei der Einführung eines Mindestlohns von 10 Euro ansetzen. Zugleich müßten die Gewerkschaften endgültig ihre Politik der Lohnzurückhaltung aufgeben, wie dies bereits in der jüngsten Vergangenheit ansatzweise zu beobachten war.
Die aus der empirica-Studie ersichtliche soziale Misere widerspricht eklatant dem Sozialstaats-Gebot des Grundgesetzes. Vielerorts können sich Familien mit Kindern, die über ein durchschnittliches Einkommen verfügen, keine geeignete Wohnung leisten. Kinder wachsen daher längst nicht nur dann in armen Verhältnissen auf, wenn ihre Familie Hatz IV bezieht. Als arm gilt nach offizieller Definition, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Die empirica-Studie belegt, daß Familien, die weniger als 60 Prozent des ortsüblichen mittleren Einkommens haben, in 60 der 100 größten deutschen Städte nach Abzug der Miete unter den Hartz-IV-Satz rutschen.
Erläuterung: Je nach dem ortsüblichen Lohnniveau ist die Armutsschwelle von Stadt zu Stadt verschieden. So gilt etwa in Freiburg die angenommene Beispiel-Familie ("Bedarfsgemeinschaft") mit zwei Erwachsenen und je einem Kind im Alter zwischen 6 und 13 Jahren und einem Kind von 5 Jahren oder jünger als arm, wenn sie über weniger Einkommen als 1.564 Euro im Monat verfügt. Laut den ermittelten Daten muß sie in Freiburg für eine familiengerechte Wohnung im unteren Preissegment 780 Euro Miete bezahlen. Dies entspricht rund 50 Prozent ihres Einkommens. Es bleibt der Familie exakt 784 Euro im Monat zum Leben. Dies ist um 45 Prozent weniger als der Hartz-IV-Satz von 1.206 Euro, den die Familie erhalten würde, wenn sie über kein Einkommen verfügt.
Die offizielle Armutsgrenze basiert auf Durchschnittszahlen für ganz Deutschland und läßt die starken regionalen Unterschiede im Einkommen außer acht. So läßt sich etwa mit einem Einkommen von 2.000 Euro in Zwickau deutlich besser leben als in Hamburg. Allerdings würde auch eine Bewertung, die sich allein auf die übliche relative Definition von Armut anhand der regionalen Durchschnittseinkommen stützt, kein realistisches Bild liefern. Die empirica-Studie basiert daher auf folgendem neuen Ansatz: Sie berechnet für die 100 größten deutschen Städte, was eine nach regionalen Maßstäben einkommensschwache vierköpfige Familie monatlich ausgeben kann, nachdem sie die Kosten für das mit Abstand teuerste Konsumgut beglichen hat: das Wohnen.
Auf dieser Basis zeigt die Studie, welche zum Teil drastischen Auswirkungen es hat, wenn geringe Einkommen auf einen "gehobenen" Wohnungsmarkt treffen. In Jena bleiben der Beispiel-Familie nach Überweisung der Miete nur 666 Euro pro Monat. Das verfügbare Einkommen liegt demnach um 45 Prozent unter dem Hartz-IV-Satz, auf den diese Familie Anspruch hätte, wenn sie über kein Einkommen verfügt. Dieser liegt bundesweit einheitlich bei 1.206 Euro.
Ähnliche krasse Auswirkungen haben geringe Einkommen in Frankfurt am Main, Freiburg und Regensburg, wo sie ebenfalls auf ein hohes Mieten-Niveau treffen. Armen Familien bleibt etwa in Frankfurt am Main nach Entrichtung der Miete 38 Prozent weniger als das Hartz-IV-Niveau. Insbesondere die Armut der in derart betroffenen Familien aufwachsenden Kindern ist ein starkes Argument für die Durchsetzung eines Mindestlohns von 10 Euro und für die Beseitigung des Niedriglohn-Sektors.
Daß es auch Gegenden in Deutschland gibt, wo einkommensschwache Familien wenigsten über Hartz-IV-Niveau kommen, sei hier nicht verschwiegen: In Heilbronn, wo relativ hohe Durchschnittseinkommen auf ein großes Angebot an Mietwohnungen und daher vergleichsweise moderate Mieten treffen, hat unsere Beispiel-Familie unter denselben Annahmen monatlich 1.941 Euro zur Verfügung. Dies liegt um 61 Prozent über dem Hartz-IV-Niveau. Zu bedenken ist jedoch auch, daß das Einkommen unserer Beispiel-Familie gerade an der Grenze zur Armut liegt - bundesweit leben 13 Prozent aller Familien zum Teil deutlich unter dieser Schwelle. Nicht in die Modell-Rechnung einbezogen wurde die Möglichkeit für arme Familien, Wohngeld zu beantragen.
Wohngeld erhalten laut offiziellen Zahlen 770.000 Haushalte in Deutschland. Der durchschnittliche Mietzuschuß belief sich dabei auf 112 Euro im Monat und deckte ein Drittel der Bruttokaltmiete ab. 86 Millionen Euro im Monat - also über eine Milliarde Euro im Jahr - fließen also als eine von vielen verdeckten Subventionen des Niedriglohn-Sektors aus Steuergeldern indirekt in die Kassen der Unternehmen.
Die empirica-Studie zeigt mit ihrer genauen Analyse der Situation in den 100 größten deutschen Städten auf, daß besonders wachsende Städte nicht nur unter ökologischen, sondern auch unter sozialem Gesichtspunkt problematisch sind. Es kommt zu einer Verdrängung auf dem Wohnungsmarkt und es schrumpft tendenziell der Anteil der Wohnungen im unteren Preissegment.
Wenn nun allerdings die Bertelsmann-Stiftung die Studie dazu heranzieht, um "wohnungsmarktpolitische Entscheidungen" zu fordern, ist erkennbar, daß sie nicht im Interesse der armen Familien agiert, sondern im Interesse einer bestimmten Industrie. Und so ist es kein Zufall, daß die Pressesprecherin der von einem pseudo-grünen Oberbürgermeister regierten Stadt Freiburg umgehend verkündet, die Kommune werde auf die empirica-Studie mit einem "Handlungsprogramm" antworten. Dieses ist nicht etwa auf eine Anhebung der Einkommen gerichtet. "Erklärtes Ziel" sei es, "neuen Wohnraum zu schaffen". Auch wenn dies mit dem Etikett "sozialer Wohnungsbau" verbrämt wird - es ist weder sozial noch grün.
Anmerkungen
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