Europas Flüsse stärker mit Chemie belastet
als bislang angenommen
Koblenz (LiZ). Pestizide aus der industriellen Landwirtschaft, Brandschutzmittel und andere Chemikalien belasten Europas Flüsse erheblich. In vielen Flüssen sind Fische, Insekten und Algen einer chronischen Schädigung ausgesetzt. Dies geht aus einer Studie hervor, die im renommierten Wissenschafts-Magazin 'Proceedings of the National Academy of Sciences' veröffentlicht wurde.
Rund 50 Prozent der europäischen Gewässer sind durch Chemikalieneinträge mittel- bis langfristig bedroht, in rund 17 Prozent gefährden Pestizide, Brandschutzmittel und andere Schadstoffe Wasserorganismen nicht nur chronisch, sondern akut. Stark betroffen sind hierbei Wirbellose wie Insekten, Krebse und Schnecken. Diese starke Belastung, die nun durch die Untersuchung von WissenschaftlerInnen Deutschland, Frankreich und der Schweiz überrascht vor dem Hintergrund der von Seiten der EU-Bürokratie seit Jahren betriebenen Verharmlosung. Erst kürzlich vergab die Europäische "Umwelt"-Agentur wieder Bestnoten für fast alle europäischen Badestellen. Zugleich ist allerdings seit langem bekannt, daß sich infolge des Phosphat- und Nitrat-Eintrags aus der industriellen Landwirtschaft über die Flüsse, die in die Ostsee münden, dort die Todeszonen immer weiter ausbreiten (Siehe unsere Artikel - zuletzt: 19.10.13).
Offensichtlich kann das offiziell ausgegebene Ziel, die Wasser-Qualität in der EU bis 2015 zu verbessern, nicht mehr erreicht werden. Studienleiter Ralf B. Schäfer von der Universität Koblenz-Landau erklärt: "Die ökologischen Risiken durch Chemikalien sind wesentlich höher als bisher angenommen." Die Studie widerlege die seit Jahren betriebene Verharmlosung von "Umwelt"-Behörden und eines Teils der auf diesem Gebiet tätigen WissenschaftlerInnen. So hieß es in den vergangenen Jahres des öfteren, in den europäischen Gewässern gebe es zwar noch die eine oder andere ökotoxikologische Problemzone - insgesamt seien sie aber nur wenig belastet. Das Verschwinden der in den 1970er-Jahren weithin Sichtbaren Schaumkronen als Folgeerscheinung etwa des Phosphat-Anteils in damaligen Waschmitteln hatte zu einer voreiligen Euphorie verführt. Die "Umwelt"-Politik der 1980er-Jahre - etwa die "Phosphathöchtmengenverordnung von 1980" - zeitigte bestenfalls punktuelle Erfolge, bewirkte aber oft nur eine Verlagerung der Probleme.
Für die jetzt in 'Proceedings of the National Academy of Sciences' veröffentlichte Studie werteten die WissenschaftlerInnen behördlich erfaßte Daten aus rund 4000 Meß-Stellen an 91 Flüssen in ganz Europa aus - darunter auch Rhein und Donau. Sie fanden 35 ökologisch besonders bedenkliche Chemikalien in Konzentrationen, die Fischarten, Algen und wirbellose Tiere krank machen oder töten können. In mehreren Flüssen in Nordfrankreich, Nordengland und dem Baltikum wiesen 75 Prozent oder mehr der Meß-Stellen im Mittel Konzentrationen der Substanzen auf, die auf Dauer dem Leben im Wasser schaden:
Pestizide aus der industriellen Landwirtschaft sind unter den akut gefährlichen Chemikalien am weitaus häufigsten vertreten. Daneben spielen unter anderem auch Flammschutzmittel und organische Zinnverbindungen wie das Biozid Tributylzinn eine Rolle, das eigentlich verboten, aber noch als Schutzschicht auf Schiffsrümpfen aufgetragen ist. Die Wirkung solcher Stoffe auf Algen und Wirbellose ist in hohen Konzentrationen oft tödlich. Fische dagegen leiden vor allem an Wachstums- oder Fortpflanzungsstörungen.
Die WissenschaftlerInnen fordern deshalb, die Gefahren durch Chemikalien künftig deutlich stärker zu gewichten als bisher. Zurzeit liegt der Fokus der EU-Maßnahmen zum Gewässerschutz darauf, die Nährstoff-Einträge zu senken und Flüsse zu renaturieren. "Diese zum Teil millionenschweren Projekte führen aber nicht zum Erfolg, wenn etwa der neu angelegte natürliche Flußlauf unterhalb landwirtschaftlich stark genutzter Flächen verläuft und deshalb durch Pestizide belastet wird," erläutert Schäfer. Auch das Umweltbundesamt räumt heute ein, daß die Risiken durch Pestizide viele Jahre lang Jahren unterschätzt wurden und vor allem in kleinen Gewässern zu wenig überprüft werden.
Möglicherweise unterschätzt auch die vorliegende Studie die realen Gefahren durch Chemikalien, denn - wie die ForscherInnen selbst hervorheben - konnten sie nicht berücksichtigen, daß sich bestimmte Schadstoffe in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken und daß etwa beim Abbau-Prozeß von Chemikalien in der Natur noch giftigere Substanzen entstehen können. Auch die zugrunde gelegten Meßwerte sind nicht sehr zuverlässig. Während etwa die in Frankreich erhobenen Daten recht gut den realen Zustand widerspiegeln, weisen die Daten aus Spanien gerade über besonders bedenkliche Chemikalien auffällige Lücken auf. So scheinen dann in der Gesamtbilanz die spanischen Gewässer kaum gefährdet zu sein. Dies ist aber nach Auskunft der WissenschaftlerInnen eher fraglich.
Lediglich für rund 40 sogenannte prioritäre Substanzen, Chemikalien die in ganz Europa als besonders gefährlich gelten, schreibt die EU einheitlich ein monatliches Monitoring vor. "Viele dieser Substanzen sind heute glücklicherweise nicht mehr zugelassen, und ihre Konzentrationen gehen vielerorts zurück," sagt Werner Brack, Wissenschaftler am Helmholtz-Umweltzentrum in Leipzig, der ebenfalls an der Studie beteiligt war. Doch zahlreiche aktuell verwendete, bedenkliche Chemikalien würden eben nicht oder nur sporadisch erfaßt. Die Regierungen der EU-Mitglieds-Staaten entscheiden im Wesentlichen nach Gutdünken, welche Chemikalien sie wann und wo detektieren.
Bei biologischen Messungen weisen die Erhebungen in Deutschland selbst von Bundesland zu Bundesland erhebliche Unterschiede auf. Während etwa in Bayern wird seit den 1980er-Jahren immer an denselben Stellen gemessen wird, wechseln die Meßorte in Niedersachsen häufig. Letzteres Vorgehen ermöglicht deutlich solidere Aussagen über den Zustand in der Fläche. Laut Schäfer ist es "fast schon ein Schildbürgerstreich", daß in vielen Regionen Regionen die Probestellen für chemische und biologische Analysen nicht aufeinander abgestimmt werden und daher keine Aussagen über Ursache und Wirkung möglich sind.
Die WissenschaftlerInnen fordern freien Zugang zu den Roh-Daten, am besten zentral über die EU. Von den chemischen Messungen erfahren sie zurzeit lediglich Mittel- und Maximalwerte, die zum Beispiel nichts darüber aussagen, wann potenziell schädliche Stoffe in die Gewässer gelangt sind. Auch die Frage, welche Stoffe welche Arten gefährden, können sie wegen der ungenügenden Datenlage nicht beantworten. "Wir bekommen über die EU lediglich die Information, ob der biologische Zustand eines Gewässers gut, mittel oder schlecht ist. Dadurch sind wir in der Situation eines Mediziners, der nur mit Blutdruckwerten den Ausbruch einer Krebskrankheit feststellen soll," so Schäfer.
Auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind wenig geeignet, zu einer Verbesserung beizutragen. So darf jeder EU-Mitglieds-Staat für manche Chemikalien eigene Grenzwerte festlegen, obwohl Flüsse keine Landesgrenzen kennen. "Die Wasserrahmenrichtlinie ist relativ zahnlos. Bei einer Überschreitung heißt es lediglich, daß Gegenmaßnahmen ergriffen werden müssen," kritisiert Schäfer. Das ursprüngliche Ziel, bis 2015 in allen europäischen Gewässer einen guten ökologischen Zustand zu erreichen, wurden schon durch etliche Ausnahmen bis 2027 unterminiert. Statt der nötigen Verschärfung der Regelungen ist allerdings - beim derzeit zu beobachtenden Trend - damit zu rechnen, daß noch immer mehr Ausnahmen genehmigt werden.
Schäfer fordert, die Landwirtschaft müsse weniger statt mehr Chemikalien einsetzen und zugleich die Abwässer besser klären. Diese Forderung wird von der Bio-Landwirtschaft längst erfüllt, während sie bei der industriellen Landwirtschaft auf taube Ohren stößt. Um den Zustand der europäischen Gewässer zu verbessern, ist es daher nötig, die Agrar-Wende voranzutreiben.
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
Wald-AIDS 2013
Zustand schlechter - nicht besser (10.03.14)
Nitrat-Belastung im deutschen Grundwasser
verschlechtert sich dramatisch (19.10.13)
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BUND fordert Neuausrichtung (28.08.13)
VGH-Urteil: Natürliches Mineralwasser
darf Pestizide enthalten (2.08.13)
Phosphat-Dünger
Industrielle Landwirtschaft ohne Zukunft (7.05.13)
Dem deutschen Wald geht es schlechter
als in den 1980er-Jahren (4.02.13)
Pestizide vernichten Amphibien
Umweltbundesamt fordert Beschränkungen (1.02.13)
Speer-Azurjungfer ist Libelle des Jahres 2013
Vom Aussterben bedroht (5.01.13)
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ist "mangelhaft" (25.10.12)
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