Tokio (LiZ). Am Sonntag be- teiligten sich erneut über 200.000 Menschen am Anti-Atom-Protest vor dem Parlamentsgebäude in Tokio. Sie trugen selbstgemalte Plakate mit Aufschriften wie "Erhebt euch gegen den Neustart!", "Atomkraft - Nein Danke!" ("Genpatsu iranai") oder "Das nukleare Zeitalter ist vorüber!" Zugleich entbrannte in der japanische Anti-Atom-Bewegung eine Diskussion um die zukünftige Strategie.
Trotz Temperaturen in Tokio von 35 Grad im Schatten und hoher Luftfeuchtigkeit hielt sich die Beteiligung an der Anti-Atom-Demonstration am Sonntag auf dem hohen Niveau der vorangegangenen Wochen. Wie schon zuvor (siehe unseren Artikel vom 14.07.12) versuchte die Polizei, die Demonstration zu behindern und in kleine Gruppen zu teilen, sie sperrte Straßen ab und blockierte den Zugang zum Demonstrationsort. Doch die Menge der DemonstrantInnen konnte von keinen Polizeiketten aufgehalten werden und die Straßen rund um das Parlamentsgebäude blieben für mehr als eine Stunde blockiert.
Die japanische Regierung hatte am 8. Juni dem Druck der Strom-Konzerne nachgegeben und gegen den Willen einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung dem Neustart der Atomenergie zugestimmt. In den vergangenen Wochen waren die ersten beiden Atom-Reaktoren von insgesamt 50, die noch funktionsfähig sind, wieder hochgefahren worden. Laut 'Japan Times' hatte eine landesweite Umfrage ergeben, daß 59,5 Prozent der Befragten den Neustart der Reaktoren des AKW Oi ablehnen und nur 26,7 Prozent das erneute Hochfahren befürworten. In den vergangenen Monaten, als sämtliche japanischen Atom-Reaktoren abgeschaltet waren, hatte sich gezeigt, daß die japanische Stromversorgung keineswegs zusammenbricht wie die Atom-Lobby immer gedroht hatte.
So wird auf den Anti-Atom-Demonstrationen die Forderung nach einem Rücktritt des japanischen Ministerpräsidenten Yoshihiko Noda von Mal zu Mal lauter. Dieser scheint sich jedoch der Unterstützung des Kapitals sicher zu sein und sitzt fest im Sattel. Dabei hatten noch im Mai selbst ExpertInnen der beiden großen, die japanische Politik dominierenden Parteien - sowohl die DPJ Nodas als auch die LDP stehen in unverbrüchlicher Treue zur Atomenergie - geraten, angesichts der Meinungsumfragen noch mit dem Neustart der Atomenergie zuzuwarten. So erklärte etwa Jeffrey Kingston, Professor an der Temple-Universität in Tokio, zur der Entscheidung vom 8. Juni: "Daß Noda das tat, kurz bevor zwei höchst kritische Berichte von offiziellen Untersuchungs- kommissionen erschienen, war einfach zu viel." Da habe eine große Mehrheit im Land erkannt, daß Demokratie nicht viel zählt. Inzwischen vertritt eine Mehrheit der politischen BeraterInnen den Standpunkt, daß Noda nun nichts anderes übrig bleibt, als sich taub zu stellen. Eine Journalistin, die früher als politische Sekretärin im engsten Zirkel der DPJ gearbeitet hat, ist der Ansicht, daß der Einfluß der Atom-Lobby auf die Regierungspartei immens sei und daß die Demonstrationen daher kaum Aussicht auf Erfolg hätten.
In der japanischen Anti-Atom-Bewegung wächst daher die Sorge, daß bei einer anhaltend hohen Frequenz der bisher wöchentlichen Demonstrationen die Frustration wächst und schon bald mehr und mehr Menschen resignieren und zu hause bleiben. Viele, die an die herkömmlichen Formen politischer Betätigung gewöhnt sind, setzen daher ihre Hoffnung auf eine Initiative des Autors und Literaturnobelpreisträgers Kenzaburo Oe. Dieser hat eine Anti-Atom-Petition gestartet und bislang mehr als 7,5 Millionen Unterschriften gesammelt. Oft sind zwar Zweifel in den Diskussionen der japanischen Anti-Atom-Bewegung zu hören, ob diese Petition die Regierung von ihrem Kurs abbringen kann, doch die Meinung überwiegt, daß ein Versuch zumindest nicht schade.
Weitaus kritischer sind die Stellungnahmen zur Gründung der "Grünen Partei Japans", die ebenfalls am Wochenende in Tokio stattfand. Die frühere nordrhein-westfälische "Umwelt"-Ministerin und Braunkohle-Lobbyistin Bärbel Höhn war eigens aus Deutschland eingeflogen worden und fungierte laut den auffallend freundlichen und umfangreichen Berichten der Mainstream-Medien als "Geburtshelferin". Durch die vielfältigen Verbindungen der japanischen zur deutschen Anti-Atom-Bewegung ist es jedoch weithin bekannt, welche Rolle die Pseudo-Grünen in Deutschland spielten, als dort vor 12 Jahren ein Atom-Ausstieg verkündet wurde, der nie in die Realität umgesetzt werden sollte.
Und so gibt es in Japan heute viele Stimmen, die davor warnen, daß eine solche Parteigründung lediglich den Zweck erfüllen soll, die japanische Anti-Atom-Bewegung auf den parlamentarischen Weg zu lenken und damit einzulullen. Wichtig sei nun vielmehr, effektive Formen des zivilen Widerstands zu entwickeln. Von einer Gruppe junger DemonstrantInnen in Tokio waren zu der Parteigründung ausschließlich skeptische Äußerungen zu hören. Eine 20-jährige Teilnehmerin erntete dagegen einhellige Zustimmung mit ihrer Aussage: "Die Energie der Menschen, die jetzt in Bewegung sind, darf nicht wieder einfach verpuffen!"
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
200.000 demonstrieren in Tokio
gegen Atomenergie (16.07.12)
Erneut 160.000 bei Demo in Tokio
Polizei-Absperrungen vergeblich (14.07.12)
160.000 in Tokio: "Saikado Hantai"
Protest gegen Neustart der Atomenergie (7.07.12)
Fukushima: 36 % der Kinder
haben veränderte Schilddrüsen (5.07.12)
200.000 in Tokio gegen Atomenergie
AKW Oi wird hochgefahren (30.06.12)
45.000 auf Demo in Tokio
"Nein zum Neustart der Atomenergie!" (23.06.12)
11.000 protestieren in Tokio
gegen Neustart der Atomenergie (16.06.12)
Atomkraftwerke in Japan
Alle Reaktoren abgeschaltet (5.05.12)
Der permanente Super-GAU von Fukushima
"Kaltabschaltung" obsolet
Temperatur steigt (13.02.12)
Japan: Nur noch 3
von 54 Atom-Reaktoren am Netz
Internationale Anti-Atom-Konferenz in Yokohama
(30.01.12)
AKW Fukushima Daiichi jetzt sicher?
Groteske Informationspolitik in Japan (16.12.11)
Der permanente Super-GAU von Fukushima
Kernschmelze gravierender als zugegeben (2.12.11)
Der permanente Super-GAU von Fukushima
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Hohe Radioaktivität in Tokio
Behörden leugnen Zusammenhang mit Fukushima
(13.10.11)
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Der permanente Super-GAU von Fukushima
Regierung verteilt Radioaktivität über Japan (27.08.11)
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in Atom-Ruine Fukushima (2.08.11)
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TEPCO bestätigt Kernschmelze in 3 Reaktoren (24.05.11)
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muß Konsequenzen ziehen (14.08.04)
Atom-Ausstieg ist möglich
in Japan 17 AKWs abgeschaltet (22.04.03)