Die Lokomotivführergewerkschaft GDL hat es in diesen Tagen nicht eben leicht. Ihr Vorsitzender Claus Weselsky wird in den Medien als eine Art Atilla der Lokführerkönig dargestellt, während der Streik der Eisenbahner in der veröffentlichten Meinung zum Untergang des Abendlandes hochgeschrieben wird.
Hinter den Kulissen wurde zur heiligen Hetzjagd auf das Gespenst der Lokführergewerkschaft geblasen – beteiligt ist neben der Deutschen Bahn AG, den Medien und der SPD auch die DGB-Gewerkschaft EVG, die im offenen Clinch mit der GDL liegt. Dabei hat die GDL allen Grund, der EVG ein wenig Konkurrenz zu machen. Die EVG und vor allem deren Vorgängerin Transnet ist nämlich nicht gerade ein Ruhmesblatt für die Geschichte der Gewerkschaften in Deutschland.
Auch wenn die GDL erst in den letzten Jahren öffentlich wahrgenommen wurde, kann sie auf eine sehr lange Geschichte zurückblicken. Nachdem die Weimarer Verfassung auch Beamten die Koalitionsfreiheit einräumte, entstand 1919 die GDL. In der Bundesrepublik gehörte die GDL dem Deutschen Beamtenbund an. Bis 2008 kannte dennoch kaum jemand die GDL. Warum ausgerechnet 2008? Um diese Frage zu beantworten, muss man ein wenig in der Zeit zurückspringen. Seit den 1990ern tobte in der Politik ein mit harten Bandagen geführter Kampf um die Privatisierung der Deutschen Bahn. Auf gewerkschaftlicher Seite spielte dabei vor allem die DGB-Gewerkschaft Transnet eine führende und durchaus unrühmliche Rolle. Transnet war damals – was für eine Arbeitnehmervertreterin durchaus ungewöhnlich ist – eine, wenn nicht sogar die, führende Befürworterin einer Teil- bzw. Kapitalprivatisierung der Deutschen Bahn. Der damalige Transnet-Vorsitzende Norbert Hansen versuchte sogar alles mögliche, um seine Partei, die SPD, von den Privatisierungsplänen des damaligen Bahnchefs Hartmut Mehdorn zu begeistern.
Auch ansonsten waren Hansen und Transnet über Jahre hinweg bei genauer Betrachtung eigentlich eher Vertreter der Arbeitgeberseite und setzten sich geflissentlich über die Interessen der Arbeitnehmer weg. Transnet ist beispielsweise dafür mitverantwortlich, dass die Deutsche Bahn systematisch Leiharbeiter als Lokführer einstellen konnte – Jahre später konnte die GDL durch ihre Streiks dieses "Geschenk" von Transnet an Mehdorn revidieren. Zum großen Zusammenstoß mit der GDL kam es 2007, als Transnet einen Tarifvertrag mit der Deutschen Bahn unterzeichnete, der es der Bahn gestattete, über fragwürdige Vertragsbedingungen neue Lokführer zu Stundenlöhnen von 7,50 Euro einzustellen. Nicht die "Lokführergewerkschaft", sondern Transnet war laut Vertrag für diese "Lokführer zweiter Klasse" verantwortlich, die formaljuristisch als "Mitarbeiter mit eisenbahnspezifischer Ausrichtung" bezeichnet wurden.
Dieser Frontalangriff weckte jedoch die Kampfeslust der GDL. Durch einen langwierigen Arbeitskampf konnte die GDL 2008 ihren ersten großen Sieg erringen und musste von der Deutschen Bahn in einem eigenständigen Tarifvertrag als vollwertige Arbeitnehmervertreterin anerkannt werden. Im gleichen Jahr unterzeichnete die Konkurrenz von Transnet ihren moralischen Offenbarungseid – der Gewerkschaftsvorsitzende Norbert Hansen wechselte ohne jegliche Übergangszeit mit fliegenden Fahnen die Seiten und heuerte im Vorstand der Deutschen Bahn AG als neuer Arbeitsdirektor an. Der Gewerkschafter, der zuvor seine Kollegen an die Deutsche Bahn verraten hatte, kassierte nun auf der Arbeitgeberseite seinen Judaslohn. Für die nicht einmal zwei Jahre, die er im Vorstand der Deutschen Bahn AG verbrachte, überwies ihm das Staatsunternehmen inkl. Abfindung stolze 3,3 Millionen Euro. Einen derart massiven Fall von Korruption (nicht juristisch, aber sehr wohl moralisch) hat es in der deutschen Gewerkschaftsgeschichte wohl noch nie gegeben.
Transnet verlor unter der Ägide Hansen jeglichen moralischen Anspruch, im Namen der Arbeitnehmer zu handeln. Hansens Nachfolger, Lothar Krauß, ebenfalls ein SPD-Mitglied, musste bereits nach sechs Monaten die Segel streichen, da es bei der Basis gar nicht gut ankam, dass Krauß einem Vergütungsplan der Bahn-Spitze seinen Segen gab, der den leitenden Bahn-Managern für den Fall eines Börsengangs fette Boni zusicherte. Der moralisch bankrotten DGB-Gewerkschaft Transnet liefen die Mitglieder weg und 2010 fusionierte sie schließlich mit der kleinen Beamtengewerkschaft GDBA, die auch zuvor schon die meisten Ungeheuerlichkeiten von Transnet mitgemacht hatte, zur neuen DGB-Gewerkschaft EVG (Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft), die sich seit ihrer Gründung vor allem dadurch einen Namen gemacht hat, Seit´ an Seit´ mit der Deutschen Bahn AG gegen die GDL vorzugehen. Die zahlreichen Sünden von Transnet waren natürlich eine Steilvorlage für die GDL, die 2008 und 2011 sehr erfolgreich in harten Arbeitskämpfen mit ausgedehnten Streiks die Folgen der Fraternisation zwischen der Deutschen Bahn AG und Transnet wieder wettmachen konnte.
Einer der häufigsten Vorwürfe, der Spartengewerkschaften wie der GDL gemacht wird, ist, dass sie nur deshalb so stark sind, da ihre Mitglieder an Schlüsselstellen setzen, die bei einem Streik ganze Unternehmen lahmlegen können. Dieses Privileg werde dafür missbraucht, den eigenen Mitgliedern auf Kosten der anderen Beschäftigten Vorteile zu verschaffen. Rosinenpickerei, so lautet der Vorwurf. Doch dieser Vorwurf ist im Falle der GDL reichlich absurd. Durch einen 2007 unterzeichneten Grundlagentarifvertrag darf die GDL bei der Bahn nur für die Lokomotivführer Tarifverträge aushandeln. Doch dieser Grundlagentarifvertrag ist im Juni dieses Jahres ausgelaufen und die GDL beansprucht nun das Recht, für das gesamte Fahrpersonal Tarifverträge auszuhandeln. Zum Fahrpersonal gehören neben den Lokführern auch Zugbegleiter, Bordgastronomen, Disponenten, Rangierführer und Ausbilder. Die GDL streikt also auch, um eben keine Rosinenpickerei für eine "Funktionselite" zu betreiben, sondern um möglichst vielen Mitarbeitern Vorteile durch die Schlagkraft der Lokführer zu verschaffen.
Wenn man sich die Zahlen anschaut, ist dieser Anspruch auch mehr als gerechtfertigt – nach Angaben der Deutschen Bahn sind in diesen Berufsgruppen 37.000 Mitarbeiter beschäftigt, von denen 19.000 Mitglied der GDL und lediglich 8.000 Mitglied der DGB-Gewerkschaft EVG sind. Die restlichen 10.000 Mitarbeiter sind nicht gewerkschaftlich organisiert.
Wenn die vermeintlich große DGB-Gewerkschaft vor allem durch ihren arbeitgeberfreundlichen Kurs aufgefallen ist, während die GDL die ureigenen Funktionen einer echten Gewerkschaft übernommen hat, sollte die GDL auch jedes Recht haben, im Namen der Arbeitnehmer Tarifverträge zu verhandeln. Dass dies der EVG nicht schmeckt, ist klar. Dass die Deutsche Bahn AG lieber nur mit einer einzigen, leicht zu händelnden, Gewerkschaft am Tisch sitzt, ist ebenfalls klar. Aber dass die Medien eine derartige Schmutzkampagne gegen die GDL fahren, ist schon erstaunlich. Noch erstaunlicher ist es jedoch, dass diese Kampagne Erfolg hat und die Bevölkerung sich nicht mit den Bahn-Beschäftigten, die ja nun weiß Gott nicht im Arbeitnehmerparadies beschäftigt sind, solidarisiert, sondern in den allgemeinen Chor der GDL-Verteufelung einstimmt. Ich bin ein GDL-Versteher und wünsche der GDL viel Erfolg beim Arbeitskampf! Mögen die Eisenbahner der geballten Propagandafront widerstehen.
Jens Berger
Erstveröffentlichung: www.nachdenkseiten.de
Anmerkungen
Siehe auch unsere Artikel:
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Verschärfung beim Sozialabbau
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Erneut Rentenkürzung
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Hartz IV
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Reallöhne in Deutschland sinken weiter
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Von der Leyens Hartz-IV-Reform
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Verlust von jährlich 100 Milliarden Euro (13.07.10)
Pisa 2010 und die Schere
zwischen Arm und Reich (23.06.10)
Gesundheitssystem: Weitere Milliarden
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Hartz-IV-Bescheide
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