Malvési, Plutonium
und das Häuschen der Großmutter
Narbonne. Der französische Atom-Konzern AREVA betreibt in Süd-Frankreich eine Atomanlage zur Konversion von Uran. Das Gelände der Anlage wurde über Jahrzehnte hin gewaltig ausgedehnt. Im Jahr 2004 wurde bei einem Unfall Plutonium freigesetzt.
Narbonne ist eine südfranzösische Stadt mit 50.000 EinwohnerInnen und einem Sandstrand am Mittelmeer. 1959 wurde die industrielle Zone Narbonne-Malvési für den Bau einer Uran-Konversions-Anlage ausgewählt. Ein "ziviles" Atomprogramm gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die französische Regierung unter General de Gaulle wollte aber in den Besitz der Atombombe gelangen. Dafür waren diverse Uran-Verarbeitungs-Anlagen nötig.
Wohin gelangt das Uran, das regelmäßig in großen Mengen im Hamburger Hafen umgeschlagen wird? Zahlreiche Atom-Transporte führen durch das Nadelöhr des Hamburger Hafens. Gegen diese Transporte ist eine neue Kampagne ins Leben gerufen worden. Als mir bewußt wurde, daß große Mengen Uranerz-Konzentrat in Hamburg umgeschlagen werden und dann nach Frankreich, nach Narbonne, weiter transportiert werden, begann ich zu recherchieren. Von der AREVA-Fabrik in Narbonne-Malvési hatte ich nie etwas gehört – obwohl ich in Frankreich aufgewachsen bin und die Atomkraft bei meiner politischen Arbeit seit Jahren Thema ist. Die Anlage in Narbonne-Malvési ist - ob in Frankreich oder Deutschland - eine unbekannte Uran-Fabrik, obgleich sie in der atomaren Kette vom Rohstoff über die Uran-Brennstäbe Brennstoff bis zum Atommüll eine Schlüsselrolle spielt. Dort fängt die atomare Kette auf europäischem Ebene an – auch wenn die Anlage offiziell nicht als Atomanlage klassifiziert ist. 26 Prozent des weltweiten Uran-Rohstoffes wird dort verarbeitet.Es gibt weltweit nur fünf weitere solche Anlagen - in den USA, in Rußland, in Kanada, in China und in Großbritannien. Der AREVA-Konzern exportiert 58 Prozent seiner Produktion in alle Welt. Dies ist Grund genug, sich für diese Anlage zu interessieren.
Heute wird in Narbonne-Malvési Uranerz-Konzentrat verarbeitet, das aus Uranminen in aller Welt stammt - aus Kanada, Niger, Namibia, Usbekistan und aus Kasachstan. Die letzten französischen Uran-Minen wurden um das Jahr 2000 geschlossen. Das Uran stammt heute zu 100 Prozent aus dem Ausland. Das Uranerz-Konzentrat oder "Yellow Cake" wird chemisch behandelt und schließlich in Urantetrafluorid umgewandelt. Dafür werden hochgiftige, ätzende Chemikalien wie Salpetersäure, gasförmiges Ammoniak und Flußsäure eingesetzt. Anschließend wird das Urantetrafluorid zur einer weiteren AREVA-Anlage in rund 200 Kilometer Entfernung, nach Tricastin/Pierrelatte transportiert. Dort wird es um in Uranhexafluorid (UF6) umgewandelt, um schließlich in einer Uran-Anreicherungs-Anlage in Gaszentrifugen angereichert zu werden.
Bei der Verarbeitung und Umwandlung des Urans entstehen große Mengen flüssiger und halbflüssiger, giftiger und schwach-strahlender Abfall, der nun seit über 60 Jahren kontinuierlich in elf große Abklingbecken geleitet wird. Die Becken erstrecken sich heute auf eine Fläche von über 30 Hektar. Der Standort wurde 1959 durch den CEA (Commissariat à l'énergie atomique) auf Grund des für die Verteilung der Radioaktivität günstigen Klimas ausgewählt. Die Gegend ist sehr windig und sehr sonnig, was die Verdunstung und die Verteilung begünstigt.
Offiziell keine Atom-Anlage
Die AREVA-Anlage in Narbonne-Malvési verarbeitet Uran, aber offiziell handelt es sich nicht um eine kerntechnische Anlage (Installation nucléaire de base INB). Eine solche Klassifizierung erhalten nur für Anlagen, die eine gesetzlich festgelegte Menge an Radioaktivität verarbeiten. Beim Uran liegt diese Grenze bei einer Million Becquerel. Verarbeitet wird diese Menge nicht – bei der Lagerung des Urans, der Rohstoffe und Abfälle, die mit der Verarbeitung des Urans einhergehen, wird die Grenze von einer Million Becquerel jedoch deutlich überschritten. Offenbar zählt dies nicht...
AREVA darf das 400-fache dieser Menge als umschlossene Strahlenquelle lagern. Das 24-Millionen-fache dieser Menge darf sogar in den im Produktions-Prozeß vorkommenden uranhaltigen Produkten vorkommen. Außerdem darf das Milliarden-fache dieser Mengen bei der Zwischenlagerung von Uranerz-Konzentrat und von Endprodukten vorliegen. In den elf Abklingbecken wird diese Menge 60 Millionen Mal übertroffen.
Der Grund, weshalb die Anlage in Narbonne-Malvési nicht als kerntechnische Anlage gilt, ist eine Gesetzesänderung aus dem Jahr 2007. Damit wurde festgelegt, daß die Grenzwerte für nicht-angereichertes "Natururan" nicht gelten. 2004 lagerten mehr als 400.000 Tonnen nitrathaltiger radioaktiver Abfall auf dem Gelände. Dies entspricht rund 400 Tonnen Uran. Die Anlage ist also offiziell keine kerntechnische Anlage. Sie ist aber immerhin wegen der chemisch hochgefährlichen Stoffe als Seveso-II-klassifiziert.
Obwohl AREVA nach der Fukushima-Katastrophe im März 2011 Japan als großen Abnehmer verloren hat, wird die Anlage derzeit erneut erweitert. 2013 wurden 12.454 UF4 Tonnen verarbeitet. Die Produktionskapazität soll nun auf 21.000 Tonnen pro Jahr erhöht werden. Die Bauarbeiten sind bereit zugange. Es gibt derzeit rund 300 Angestellte (die der Subunternehmen sind nicht mitgezählt).
Mit Sand gefüllte Fässer dienen nach offiziellen Angaben zur Abschirmung für die Radioaktivität. Dahinter Container mit Uranerz-Konzentrat - ob diese Container über den Hamburger Hafen gekommen sind?
Am Zaun ist die Strahlung dennoch sehr hoch, wie ein Video von CRIIRAD beweist:
Die AREVA-Anlage in Narbonne-Malvési wurde über Jahrzehnte hin gewaltig ausgedehnt. In Narbonne ist sie als "usine Comurhex" (Comurhex-Fabrik) bekannt. Comurhex war bis Anfang 2014 ein Tochterunternehmen von AREVA. Eine Restrukturierung führte dazu, daß AREVA nun der offizielle Betreiber ist.
Sandrine vom 'Café de la Poste' in Narbonne war bis vor wenigen Jahren direkte Nachbarin der Anlage. Sie berichtete mir davon, wie die Anlage über die Jahre gewachsen ist und wie ihre Familie schließlich vertrieben wurde. Ihre Familie wohnte schon vor der Gründung der Anlage in Malvési. Als kleines Kind lief Sandrine über die Felder. Von der Anlage war weit und breit nichts zu sehen. Doch der Zaun kam immer näher, bis er das Haus von Sandrine und ihrer Familie erreichte. Die Familie, die sich weigerte zu verkaufen und zu gehen, wurde de facto eingezäunt. Selbst die Zuwege gehören AREVA. Der Konzern muß aber der Familie und dessen BesucherInnen die Durchfahrt gestatten. Die Großmutter von Sandrine wohnt seit über 80 Jahren im Haus. Sie weigerte sich, es zu verlassen, als es nach dem Unfall in der Anlage im Jahr 2004 doch an AREVA verkauft wurde und die Enkelkinder es nicht mehr aushalten konnten.
Im Vordergrund das Haus, wo die mittlerweile 102 Jahre alte Grußmutter noch wohnt.
Sandrine hatte am 20. März 2004 FreundInnen zu ihrem Geburtstag eingeladen. Doch diese riefen sie an und fragten, ob sie nach dem Unfall in der Comurhex-Fabrik noch kommen sollten. Sandrine fiel aus allen Wolken und schaltete das Radio ein. Tatsächlich wurde von einem Zwischenfall mit radioaktiver Verseuchung berichtet. Sie ging um das Haus und stellte fest, daß ein undefinierbarer Schlamm die Rückseite des Hauses erreicht hatte. Der Damm eines Abklingbecken war gebrochen und 30.000 Kubikmeter uranhaltiger Schlamm waren ausgelaufen. Um Schlimmeres zu verhindern, wurde eine Sperre errichtet. VertreterInnen der Comurhex-Fabrik kamen erst 3 Tage später vorbei, um über den Vorfall zu informieren. Ein Mitarbeiter erklärte, es sei alles harmlos und mit dem Schlamm könne man sein Garten düngen. Er enthalte eine große Menge Phosphat.
Der Weg zum Haus der Großmutter
AREVA hat Schilder mit der Aufschrift "Zugang Verboten" aufgestellt. Sandrine darf ihre Großmutter dennoch besuchen und die alte Dame darf auch FreundInnen empfangen. Auch hier sind die mit Sand gefüllten Fässer zu sehen.
Die Familie zeigte sich mißtrauisch und wandte sich an die CRIIRAD, ein unabhängiges Labor zur Messung von Radioaktivität. Proben wurde genommen. Die Untersuchung wies radioaktive Elemente wie Plutonium und Radium nach. VertreterInnen der Comurhex-Fabrik erklärten zunächst, dies sei nicht möglich, die Ergebnisse seien nicht korrekt. Plutonium kommt in der Natur nicht vor. Eine zweite Analyse von offizieller Seite bestätigte 2009 die Ergebnisse der CRIIRAD. Die Comurhex mußte schließlich eingestehen, daß in Malvési nicht nur Natururan verarbeitet wurde. Bis in die 1980er-Jahre wurde Uran aus der sogenannten Wiederaufbereitungsanlage La Hague verarbeitet. Dies wurde eingestellt, weil das Verfahren besonders teuer und aufwendig war und die Ergebnisse offenbar nicht zufriedenstellend waren. Die Verfahren jener Zeit genügten jedoch für eine Verseuchung der Anlage mit Plutonium. Wie ein Aktivist mir erzählte, wurde dies vom Betreiber jahrelang bewußt verschwiegen. Ein "Déplutonisateur" wurde in den 1980er-Jahren eingesetzt. Das zeigt, daß der Betreiber wohl über die Präsenz von Plutonium Bescheid wußte.
Statt sich bei der Familie von Sandrine zu entschuldigen, kamen VertreterInnen der Comurhex-Fabrik nach dem Unfall mit einem Angebot. Sie wußten, daß die junge Musikerin arbeitslos war und boten ihr Geld für den Verkauf des Hauses sowie einen Arbeitsplatz in der Anlage an.
Sandrine nahm den Arbeitsplatz nicht an. Angesichts der Verseuchung des Ortes entschied sich die junge Familie allerdings für den Verkauf des Hauses an die Comurhex – mit der Bedingung, daß die Großmutter, die nicht umziehen wollte, kostenfrei weiter im Haus wohnen dürfe. Die Comurhex ging darauf ein. Vermutlich spekulierte man, die über 90 Jahre alte Dame werde sowieso nicht mehr lange leben. Die Dame wird im kommenden Januar 103 Jahre alt, wie sie mir stolz erzählte. "So schnell kriegen sie mich nicht weg," sagte sie mit einem Lächeln. Sandrine und ihr Freund haben mit dem Geld ein Café in der Innenstadt von Narbonne eröffnet. Dort finden zahlreiche kulturelle und politische Veranstaltungen statt. Am Tag vor dem Prozeß gegen die "Bloqueurs d'uranium", AktivistInnen, die 2013 einen mit Urantetrafluorid beladenen LkW rund eineinhalb Stunden blockierten, kamen über 150 Menschen zur Veranstaltung ins Café de la Poste. Es paßten nicht alle Menschen hinein.
Weil Plutonium nachweislich in den Becken B1 und B2 vorhanden ist, soll nun eine Klassifizierung als kerntechnische Anlage erfolgen. Dies würde aber nur die Abklingbecken, also den Atommüll, betreffen und nicht die gesamte Anlage. AREVA und die atomare Aufsichtsbehörde haben keine Eile - die Prozedur läuft schon seit 2009.
Hier sind weiße Säcke zu sehen. Es sind Atommüll-Säcke. Sie sind mit radioaktiv belastetem Material (Werkzeuge, Anzüge, etc.) gefüllt und liegen einfach so herum.
Die AtomkraftgegnerInnen verlangen eine Einstufung der gesamten Anlage als kerntechnische Anlage. Die Anlage verseucht die ganze Umgebung. Zahlreiche ArbeiterInnen erkranken an strahleninduzierte Krankheiten. Eine Klassifizierung der Anlage würde zu strengeren Arbeitsvorschriften führen.
Weitere Zwischenfälle
Der Dammbruch hat heute noch Folgen. Zur Eindämmung der Katastrophe wurden damals ArbeiterInnen der Comurhex eingesetzt. Sie plantschten ahnungslos im hoch verseuchten Schlamm herum. Ein Arbeiter eines Subunternehmens, der dort ohne Schutzausrüstung Bohrungen vorgenommen hatte, leidet heute an Leukämie. Er kämpft um die Anerkennung seiner Krankheit als Berufskrankheit. Die Sozialversicherung wehrt jedoch ab: Er habe nicht lange genug vor Ort gearbeitet. Wer auch nur ein Millionstel Gramm Plutonium einatmet, ein kaum staubkorngroßes Teilchen, kann bekanntlich an Lungenkrebs und Leukämie erkranken. Doch anscheinend fand diese wissenschaftliche Erkenntnis bislang keinen Eingang in bürokratische Vorschriften.
Weitere Zwischenfälle, die zu Verseuchungen geführt haben, ereigneten sich in den vergangenen Jahren. Ende Januar 2006 wurde ein Teil der Anlage nach starkem Regen überschwemmt. Das Wasser lief darauf hin in die diversen Becken. Dies führte zu einer sehr hohen Konzentration an Nitrat (80 mg/l statt üblicherweise 20 mg/l).
Im August 2009 liefen Fluor und Uran aus. Das verseuchte Wasser erreichte den Kanal von Tauran. Der Sigean-See wurde ebenfalls kontaminiert. Der Ort ist ein Tierschutzgebiet mit großem Touristen-Andrang im August. Das verseuchte Wasser gelangte schließlich ins Meer. Der Vorfall wurde mit anderthalb Tage Verspätung öffentlich gemacht.
Viele ArbeiterInnen leiden an strahleninduzierten Krankheiten wie Lungenkrebs und chronischer myeloischer Leukämie (CML). Ob AREVA-MitarbeiterInnen oder ArbeiterInnen von Subunternehmen: Es gibt keine Statistik, aber die Anzahl an Erkrankungen fällt auf. Selbst der Werksarzt und der Pförtner der Anlage sind an Leukämie gestorben. Unbekannt ist auch die Anzahl an Erkrankungen in der Bevölkerung um die Anlage. Es gibt keine Statistik dazu.
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zur Reaktor-Katastrophe von Fukushima
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in den kommenden Monaten
Fotos von cryptome.org (6.04.11)